Baeuerin sucht Frau
schnell, um Antje mit mir zur Tür zu ziehen.
»Wieso?« will Antje wissen und tut genau das. Hochsehen. Kopf und Taschenlampe gehen gleichzeitig nach oben.
Antjes Gesicht erstarrt. Und nach dieser Starre, das habe ich mehr als einmal erlebt, geht Antje jede Kontrolle über ihr Tun verloren. Fuchtelnde Arme, Rennen, hysterisches Quietschen. Nur die Reihenfolge variiert von mal zu mal. Da alle drei Reaktionen aber immer sehr zeitnah beieinander liegen, spielt das eigentlich keine Rolle.
Antjes starrer Blick geht über in hektisches Suchen. Deutliches Zeichen der beginnenden Panikattacke. Mir ist sofort klar: ich muss um jeden Preis verhindern, dass Antje hier einen ihrer Tänze aufführt, dabei über das Gerümpel am Boden ins Stolpern kommt und am Ende unweigerlich eines der Regale umreißt. Welches dann, gemäß Murphys Gesetz und dem Dominoprinzip, andere mit sich ziehen würde. Am furiosen Ende das Regal mit den Einweckgläsern. Diesen Lärm würde selbst die schwerhörige Roswitha nicht überhören!
Schnell greife ich nach Antje, halte sie mit beiden Armen fest, suche ihren Blick. »Pssst!«, zische ich, drehe mich samt Antje um, so dass ich mich rückwärts vorsichtig in Richtung Tür bewegen kann und ziehe Antje mit mir.
Von Antjes Lippen löst sich ein fiepsiger Laut.
»Keine Panik«, beschwöre ich meine Freundin. Sie nickt auch tapfer, doch ihr Mund öffnet sich.
Eigentlich habe ich nicht so sehr Angst vor dem Aufschrei, den ich kommen sehe. Ich habe Angst, dass Antje sich in ihrer Panik hochschaukelt, wenn sie sich selbst rufen und fluchen hört. Was wenn sie sich dann losreißt? Ich höre schon die Gläser zerscheppern! Vor meinem inneren Auge erhebt sich Roswitha ächzend von ihrer Couch, um nach der Ursache des Lärms zu sehen, der in ihrem Hörgerät einen hohen Schrillton auslöst.
Was soll ich tun? Meine Hände sind bereits mehr als gefordert Antjes Bewegungsapparat in Schach zu halten. Ich kann unmöglich auf einen Arm verzichten, um ihr die Hand auf den Mund zu pressen.
Also - küsse ich sie. Das ist die einzige Möglichkeit die ich habe, Antjes Aufschrei zu verhindern. Und es funktioniert. Antje vergisst tatsächlich ihren Schrei, lässt sich mitziehen.
Gefühlte zehn Minuten später, wahrscheinlich tatsächliche zehn Sekunden, und wir sind an der Tür. Immer noch Mund an Mund. Ich drehe mich erneut um, samt Antje versteht sich, taste nach der Tür in meinem Rücken, ziehe sie zu.
Geschafft!
Ich lehne an der Tür.
Ähm, also genaugenommen, lehnen wir an der Tür.
Es ist mir bis eben gar nicht so aufgefallen, aber jetzt. Etwa ab der Hälfte des Rückzuges war es weniger ich gewesen, die Antje umklammert hatte, sondern sie mich. Und es war auch Antje, die mich heftig küsste. Nicht umgekehrt.
Alles kein Problem, Nebenwirkung der Panik, verständlich. Nur im Moment, also gerade jetzt, wo keine Wespe mehr in der Nähe ist - wie gesagt wir lehnen an der Tür, von außen! – küsst Antje mich immer noch. Das warme Kribbeln auf meinen Lippen, wandert von einer Ameisenarmee getragen in meinen Bauch. Wo es sich fortsetzt und plötzlich von allen Seiten ruft: Mehr, mehr, mehr!
Ich vermute das ist der Grund warum ich die Sache nicht beende.
So kommt es, dass Antje und ich uns in einer Art umarmen und küssen, die für Freundinnen, auch die besten, nicht üblich ist. Doch im Moment ist mir das egal und Antje denkt wohl erst gar nicht so weit.
Für ihren ersten Frau-küsst-Frau-Versuch (ich nehme jedenfalls an, dass es Antjes erster ist) ist sie erstaunlich ausdauernd. Und ob nun generell oder speziell hier und jetzt, darüber kann ich nicht urteilen, Antje küsst mit viel Gefühl. Kein Ich-saug-dich–aus-Kuss, sondern einer der sanften Art. Schüchtern zwar, aber nicht nur abwartend. Sanft, bestimmt. Ich genieße es.
Leider wird Antjes Umarmung schon schwächer. Und, ich ahnte es, plötzlich lässt sie mich los, steht mit hochrotem Gesicht und gesenktem Kopf da.
Wir wissen beide, mit »War doch nichts« kann Antje das diesmal nicht abtun. Aber vielleicht hat sie eine plausible Erklärung für das Ganze, zum Beispiel ein Schulforschungsprojekt, Thema: Küssen in Gefahrensituationen. Mit sich selbst als Versuchsperson. Wäre ja möglich.
Antjes Ich-würde-am-liebsten-im-Boden-versinken-Haltung spricht aber eher dagegen. Und mir ist nur allzu klar, mit meinen Betrachtungen über Antjes Motiv versuche ich nichts anderes als mich abzulenken. Denn ich stecke ebenso in der Klemme wie Antje.
Weitere Kostenlose Bücher