Balla Balla
Bonbon. Es sah aus wie das, das er sich unter dem Tisch in die Hosentasche gesteckt hatte. Als er durch das Türchen danach greifen wollte, zwickte der Papagei ihn in die Hand.
»Arschloch!«, zischte Plotek, zog die Hand ohne Bonbon zurück und verschloss das Gittertürchen wieder. Nun lachte der Papagei.
Plotek warf eine alte Jacke über den Käfig, wogegen sich der Papagei erfolglos mit lautem »Mörder! Mörder!«-Geschrei zu wehren schien, und verließ das Haus.
Plotek fuhr mit der S-Bahn zum Krankenhaus. Der Portier begrüßte ihn wie einen alten Bekannten. Plotek nickte verlegen und fuhr mit dem Aufzug in den vierten Stock, schlich sich am Schwesternzimmer vorbei und betrat um fünf nach zehn Piotrs Zimmer. Piotr lag schon komplett angezogen unter dem Plumeau und sagte: »Na, endlich!« Er warf die Decke in hohem Bogen zur Seite und wuchtete sich aus dem Bett.
»Und jetzt?«, fragte Plotek ein wenig überrascht.
»Jetzt schleichen wir uns raus«, sagte Piotr und ging zum Vorhang, hinter dem ein zusammengeklappter Rollstuhl stand.
»Und was sagt Schwester Sieglinde dazu?«, fragte Plotek. Aber Piotr saß bereits im Rollstuhl und sah aus, als könnte er es nicht mehr erwarten, von hier wegzukommen.
Piotr zuckte mit den Schultern. »Die ist nicht da!«, sagte er ungerührt. »Na los, machen Sie schon!«
Plotek öffnete die Zimmertür und streckte vorsichtig seinen Kopf hinaus. Nichts zu sehen.
»Los«, trieb ihn Piotr an, »gehen wir.«
Apropos gehen: So schnell er konnte, schob Plotek Piotr im Rollstuhl über den Krankenhausflur zum Aufzug. Sie fuhren zur Aufnahme ins Kellergeschoss. Plotek öffnete die zweiflügelige Stahltür, streckte wieder seinen Kopf hinaus.
»Und?«, fragte Piotr ungeduldig.
»Alles klar.«
»Na dann, los!«
Plotek öffnete die Tür und schob den Rollstuhl mit Piotr hinaus in die warme Nacht, am Brunnen vorbei durch den Park bis zum Haupteingang des Krankenhauses. Piotr feuerte ihn an. Plotek schwitzte.
Als sie die Schranke vor dem Krankenhaus hinter sich gelassen hatten, fragte Plotek unschlüssig: »Und jetzt?«
»Ins Bella!«, schrie Piotr und zeigte auf ein Taxi, das vor dem Krankenhaus wartete, als wäre es bestellt.
»Wo ist denn ...«
»Da rein!«, brüllte Piotr, während der Taxifahrer aus dem Wagen kroch. »Ich führe Sie schon hin. Auf geht’s!«
»Auf geht’s!«
15
Das Bella war eine Mischung aus Nachtclub, Kneipe, Kleinkunstetablissement, Homo-Bar, Transvestitenladen und Puff. Ganz schön viel auf einmal. Bei genauer Betrachtung war es sogar noch mehr. Das Bella war eine Insel, eine Heimstatt, ein Zufluchtsort für all diejenigen, die in normalen Gaststätten keinen Platz hatten. Im Bella verkehrten alle, für die eine gewöhnliche partnerschaftliche Beziehung undenkbar war, beziehungsweise die ihrerseits für eine konventionelle Paarbindung völlig untauglich schienen. Hier wurde das Anormale zur Pflicht. Die Perversion zum Standard. Das Abseitige mittig. Oder einfach: Hier war alles anders – und auch erlaubt.
Plotek kam es so vor, als wäre er hier ganz gut aufgehoben. Irgendwie fühlte er sich ein bisschen an das Froh und Munter erinnert.
Das ganze Lokal sah aus, als wäre es aus der Zeit gefallen. Marodes Flair, charmanter Schick. Alles erinnerte an die 70er-Jahre. Die Tapete an den Wänden, die Lampen, Stühle, Tische, das ganze Interieur und auch die kleine Bühne, auf der gerade eine halbnackte Schwarze zu einem Ohrwurm von Tina Turner mit ihrem BH kämpfte. Es ging hier zu, als wäre die Zeit einfach stehen geblieben. Das war nicht mühevoll hergestellter Retro-Schick, den man heutzutage aufgrund von Einfallslosigkeit immer wieder gern auflegte. Das war eindeutig und in überzeugender Weise Schnee von gestern – in seiner ganzen authentischen unaufgeregten Pracht. Mich würde es nicht wundern, dachte Plotek, wenn auf dem Bilderrahmen an der Wand fingerdicker Staub der vergangenen Jahrzehnte liegen würde.
Piotr erhob sich am Eingang aus dem Rollstuhl, der achtlos zusammengeklappt in einer Ecke entsorgt wurde, und ließ sich vom Personal und auch von den meisten Gästen mit Handschlag begrüßen. Ein lang vermisster Gast war wieder zurück, der verlorene Sohn war wieder daheim! Die leicht bekleideten Damen küssten ihn auf den Mund. »Du hast uns gefehlt«, hauchten sie ihm zu und die Transen strichen ihm liebevoll über das schüttere Haar. »Schön, dass du wieder da bist!«
Die etwas dickliche, dunkelhäutige Frau auf der Bühne hatte
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