Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Balla Balla

Balla Balla

Titel: Balla Balla Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sobo Swobodnik
Vom Netzwerk:
zusammen. Unbeirrt erzählte Rosella weiter.
    »Aber es sollte gerettet werden, was noch zu retten war. Durch mich! Durch mich sollte die Nächstenliebe wirken, der Heiland gelebten Ausdruck finden. Ich sollte den Gedanken und den Worten Taten folgen lassen, helfen, wo Hilfe benötigt wurde. Ich überließ das Denken der Stimme in mir, lebte auf himmlische Anweisung. Ich tat das, was von mir verlangt wurde und was ich tun musste. Ich folgte Gottes Willen willenlos. Es zog mich zu den entlegensten Ecken, in die dunkelsten Winkel dieser Stadt. Dahin, wo das Leben zum Erliegen kommt, der Puls bei 23 zu 55 stagniert, der Atem zwischen Leben und Tod im luftarmen Raum schwebt.«
    Plotek griff sich intuitiv an die Stirn und merkte, wie das Blut in seinen Adern pochte.
    »Wo Hunde das Bein heben und ihr Urin das einzig Wärmende ist. Wo Menschen bereits aufgehört haben, Mensch zu sein. Wo vom Leben nur noch das Überleben übrig ist. Wo Hoffnung zu Zynismus wird, Liebe nach Branntwein schmeckt.«
    »Prost«, sagte Piotr und stieß mit den anderen an.
    »Wo Körper aufbrechen und sich Vergänglichkeit offen zeigt«, fuhr Rosella fort. »Wo der Verfall zerfällt, wo alles nur noch von zerschlissenen Mänteln zusammengehalten wird. Wo der Geruch nach Hölle riecht. Fleisch verfault. Wunden offen klagen und Leid zum Normalzustand wird. Dort sollte ich als Fingerzeig Gottes, als Stimme des Guten, das Böse mit warmem Pfefferminztee und Mettwurstbrötchen bändigen – könnt ihr euch das vorstellen?«
    Entschiedenes Nicken von Piotr und halbherziges von Plotek, während er dachte, jetzt reicht es langsam. Aber vergiss es.
    »Ich war für sie da«, sagte Rosella. »Ich hatte auf Fragen Antworten. Ich wurde wieder gebraucht. Vom Rand der Ränder, vom Aussatz, vom Abschaum, von Menschen, deren Leben eher einem langsamen Dahinvegetieren, einem verzögerten Sterben glich. Aber auch sie hatten Bedürfnisse.
    Für sie musste ich unersetzlich werden. Ich verband nässende Wunden, zurrte auseinanderklaffendes Fleisch zusammen, salbte Ausschläge und versuchte Schmerzen zu lindern. Diese Ausgestoßenen liebten mich. Und in mir meinen Gott, den sie allmählich auch annahmen. Sie erkannten in mir unser aller Heiland. Sie wollten zwar noch nicht an ihn glauben. Aber ER war es, der die Mettwurstbrötchen für sie bereithielt. ER war es, der sie satt machte und dessen Pfefferminztee sie wärmte. Gott war für sie zwar kein russischer Wodka oder amerikanischer Brandy, Gott war Pfefferminztee – köstlich schmeckender, heißer Pfefferminztee, nach dem es sie dürstete. Immerhin! Mein einziges Bedürfnis war es, die anderen zu befriedigen. Ich lebte nur noch für die anderen. Die anderen wurden ich selbst. Eine Symbiose von Bedarf und Bedürftigen, von Helfer und Geholfenem, von Wille und Wunsch. Sie kennenzulernen hieß für mich, die Welt kennenlernen. Die Welt kennenzulernen hieß, mich selbst aufgeben. Die Welt hielt Einzug in mich, ich wurde öffentlich. Ich löste mich auf und wurde zum personifizierten sozialen Handeln ohne psychologischen Hintergrund. Alles, was ich tat, war Tun, ohne an mich zu denken, ohne nach Sinn und Zweck zu fragen. Es ging um nichts anderes als das Handeln, ausschließlich um die soziale Tat.«
    »Prost«, sagte Piotr wieder und unterbrach Rosellas Redefluss. Plotek dachte, das ist religiöser Fundamentalismus schwäbischer Prägung.
    »Der Geist ist nur, was er tut!«, fuhr Rosella fort. »Es war ein Ausbrechen aus der Privatsphäre. Ein Eindringen in den öffentlichen Raum. Die Bahnhofsmission wurde mein Kosmos. Der Hauptbahnhof das Zentrum meiner Welt. Ich lebte mit ihnen, aß selbst Mettwurstbrötchen und trank Pfefferminztee. Ich verband die eigenen Wunden, salbte fünf Jahre lang die eigene Haut.«
    Plotek horchte auf.
    »Fünf Jahre lang war ich ein aufopferungsvoller Jünger des Glaubens, bis, ja bis ich schließlich von einem Moment auf den anderen dachte: Jetzt reicht’s!«
    Wieder horchte Plotek auf.
    »Die Nutella-Brote waren zu Mettwurstbrötchen geworden, mein altes Leben hatte mich wieder eingeholt und die Chance war verschenkt. Ich bin weg und doch wieder da, wo ich war. ̇›Halt’s Maul, Stimme!‹, sagte ich und hörte ab jetzt auf mich selbst. Seither bin ich hier im Bella ,«
    »Und seither spricht sie nicht mehr?«, fragte Piotr.
    Wer, dachte Plotek.
    Rosella lachte.
    »Nein, schon lange nicht mehr. Jetzt spreche nur noch ich.«
    Und zwar wie eine Schnellfeuerwaffe, dachte Plotek, ohne

Weitere Kostenlose Bücher