Ballade der Leidenschaft
schreiend liefen Kinder herum.
Eudo hatte Rozenn gebeten, heute Abend seine Tischdame zu sein. Wie es dem niedrigen Status der beiden in dieser glanzvollen adeligen Gesellschaft angemessen war, saßen sie fast am unteren Ende einer Schmalseite des Rechtecks, nahe dem Eingang und in einiger Entfernung von den Herdflammen.
In der Luft mischten sich durchdringende Gerüche – von verbranntem Fett, Wein, Schweiß, Hunden, sogar Pferden. Rozenn rümpfte die Nase. Auf Wandtischen standen Wasserkrüge und Waschschüsseln bereit, doch offenbar hatten nicht alle Leute davon Gebrauch gemacht. Vielen haftete immer noch der Gestank einer langen Reise an.
„Sagt, Eudo, wo ist Ben?“, fragte Rozenn. Vor dem Auftritt würde ihr Freund nichts essen, das wusste sie. Doch ihr wäre wohler, wenn sie seinen Aufenthaltsort kannte.
„Als ich ihn zuletzt sah, trug er einen erbitterten Streit mit Alfonse le Brun über die Änderung des Abendprogramms aus“, erklärte Eudo, spießte mit seinem Messer eine der Lammkeulen auf, die auf großen Platten angerichtet waren, und ließ sie auf sein Schneidebrett fallen.
Lächelnd dankte Rose ihm für die Mitteilung. „Wie ich annehme, wird er erst viel später essen. Turolds Lied ist ziemlich lang, und davor hat er keinen Appetit.“
„So aufgeregt ist er? Das hätte ich nicht gedacht.“ Eudo bedeutete einer Dienerin, die Weinbecher nachzufüllen.
„Vor jedem Auftritt fühlt er sich unwohl, obwohl er es zu verbergen sucht. In seiner Kindheit, während er von seinem Vater ausgebildet wurde, plagten ihn vor den Auftritten heftige Magenbeschwerden.“
„Deshalb ist er so großartig.“
Rozenn zog ihre Brauen zusammen. „Weil er sich aufregt?“
„Nein – weil er seine Kunst ernst nimmt. Nur die besten Künstler sind vor ihrem Auftritt derart aufgewühlt.“ Eudo grinste fröhlich. „Mit meiner Tätigkeit verhält es sich ähnlich – ein bisschen innere Anspannung schärft die Sinne, und sie verleiht der Hand im Kampf die nötige Sicherheit.“
Rose ergriff ihren Becher. Nachdenklich drehte sie ihn hin und her. „Wie seltsam – mir geht es genau andersherum. Wenn ich mich aufrege, zum Beispiel, weil die Comtesse einen Wutanfall bekommt, kann ich kaum die Nadel halten, geschweige denn einen Stich vollbringen.“
„Die Menschen unterscheiden sich“, meinte er und musterte sie eindringlich. „Nach meiner Ansicht ein Segen.“
Geistesabwesend stimmte sie zu. Wo mochte Ben so lange bleiben? Hinter dem langen Haupttisch, vor dem Wandteppich, standen mehrere Diener in einer langen Reihe. Die Gold– und Silberfäden des Kunstwerks funkelten, zogen immer wieder alle Blicke auf sich. Und die unzähligen mille-fleurs – gelb, rot, blau … Monatelang mussten die Stickerinnen daran gearbeitet haben.
Jemand stand in der Tür zum Nordturm, am Fuß der Stufen, halb im Schatten verborgen. Nicht Ben. Aber – Rozenns Atem stockte. Das rote Haar war unverwechselbar, insbesondere, wenn es im Fackelschein wie Feuer leuchtete. Sie runzelte die Stirn. Schon im Burghof in Quimperlé schien der Mann Ben beobachtet zu haben. In Hennebont hatte sie ihn blitzschnell in einer Gasse verschwinden sehen. Und jetzt … Hinter ihm, im dunklen Treppenschacht, regte sich eine schemenhafte Gestalt. Rose kniff die Augen zusammen. Überall würde sie dieses Profil erkennen. Ben. Warum diese Heimlichtuerei?
In wachsender Verwirrung sah sie, wie der Rotschopf den Kopf zur Seite wandte – anscheinend sprach Ben mit ihm – und einen Blick über die Schulter warf. Dann trat er zu Ben auf die Treppe und schloss die Tür.
„Etwas Lammfleisch, Madame?“, fragte Eudo.
„Oh – ich … Verzeiht mir bitte. Gerne, vielen Dank.“ Während er ihr ein Stück Fleisch abschnitt, starrte sie die geschlossene Tür zum Nordturm an. Was führte Ben im Schilde?
Nur vage nahm sie wahr, dass Eudo und der Ritter an seiner anderen Seite ihre Ansichten über den neuen englischen König William, Herzog der Normandie, austauschten. Sein Feldzug im letzten Herbst wurde erörtert, dann sprachen sie darüber, wie skrupellos die Normannen die Revolte in England unterdrückt hatten. Rozenn hörte kurz etwas aufmerksamer zu. War auch Adam in Fulford so skrupellos vorgegangen? Dann kehrten ihre Gedanken zu Ben zurück.
Was tat er? Sie glaubte ihn zu kennen, hatte gehofft, zwischen ihnen würde es keine Geheimnisse geben. Aber sein verstohlenes Benehmen passte nicht dazu. Was hatte er mit dem Rotschopf zu schaffen?
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