Ballast oder Eva lernt fliegen
Wahrheiten . Noch am selben Abend fand die erste Lesung statt. Als Eva den Saal betrat, umklammerte ihre Linke den Glücks-Kieselstein, den sie nun ständig bei sich trug. Dann saß sie auf dem Podium im Kegel eines Scheinwerfers und wusste instinktiv, dass dies der ihr angestammte Platz war.
Kaum zwei Wochen später teilte Eva ihren enttäuschten Fans mit, dass sie bis auf weiteres bei den Yogakursen nicht mehr persönlich anwesend sein konnte. Bernd erhielt eine SMS mit der Bitte, Eva künftig unter der Woche nicht mehr zu stören, und dem Versprechen, dass die Wochenenden ganz ihm und der Erholung gehören sollten.
Am 12. April trat Eva zum ersten Mal in einer beliebten Fernsehshow in einem der Hauptsender auf, zur besten Fernsehzeit. Am 24. desselben Monats ließ sie sich unbezahlten Urlaub geben, um dem Ansturm der Medien gerecht werden zu können.
Den Mai verbrachte Eva auf Reisen. Immer öfter saß ihr Publikum nicht sichtbar vor ihr, sondern zu Hause vor den Fernsehapparaten. Sie störte sich nicht daran. Statt vor im Halbdunkel schimmernden Gesichtern zu kokettieren, bezirzte sie nun die Kamera und ihren Interview-Partner. Eva war für diese Rolle geboren. Ihr Buch wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt. Anfragen ausländischer Talkshows landeten auf Arianes Schreibtisch, die all die Termine kaum mehr unterbrachte. Für Yoga und Meditation blieb keine freie Minute übrig. Selbst ihre geliebten Spaziergänge musste Eva aufgeben, und so auch ihre Gespräche mit Boskop. Sie ernährte sich von einer Mischung aus Fastfood und Rohkost, um keine Zeit in der Küche zu vergeuden. Lediglich die Wochenenden gehörten der Erholung. Bernd erschien Freitagabends und blieb bis zum Frühstück am Montagmorgen. Auch Ariane und Heinrich verbrachten viel Zeit bei Eva. Es gab richtige Mahlzeiten, die von den Männern zubereitet wurden, und Gespräche über die Arbeit waren tabu.
Ariane, die als Einzige auch unter der Woche in Evas Wohnung eingelassen wurde, erwies sich als unglaublich tüchtig. Sie sorgte dafür, dass Eva stets genug Zeit blieb, um mit ihrem neuen Buch voranzukommen. Wann immer ihr eine Idee kam, hatte Eva ein Diktiergerät zur Hand, Ariane hatte gleich mehrere gekauft. Bei ihren Besuchen lud sie sich die neu aufgesprochenen Texte auf ihr Laptop und legte die abgetippten vom letzten Mal auf Evas niedrigen japanischen Tisch, wo meist schon von Eva überarbeitete Blätter für sie bereitlagen. Nichts schien die beiden Freundinnen in ihrem Ziel, das Manuskript in Rekordzeit fertig zu stellen, aufhalten zu können. Bis zu jener Talkshow im französischen Fernsehen.
Es sollte um die Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft gehen. Geladen waren: die (unverheiratete) Managerin eines Fast-Food-Konzerns; ein berühmter Arzt, der soeben wichtige Forschungsergebnisse zu Zivilisationskrankheiten veröffentlicht hatte; ein Ethnologe, der die These vertrat, dass die Emanzipation der Frau zu einer kulinarischen Verarmung der Völker geführt habe und weiter führe; ein halbverhungertes Model, dessen Redebeiträge noch magerer waren als seine Figur; eine achtfache Mutter; ein alleinerziehender Vater, der nebenberuflich einen Vollwertkost-Versand betrieb; Eva Idengart. Während der Vorstellungsrunde auf der schwarzen Ledercouch wurde Eva klar, in welche Richtung die Diskussion sich entwickeln musste, und sie bereute, dass sie sich bei öffentlichen Auftritten so sehr auf ihre Agentin verließ. Ariane hatte vermutlich vor lauter ‚Rolle der Frau’ das sich aufdrängende Thema Ernährung gar nicht weiter beachtet.
Es half nicht, dass Evas zweites Buch so weit gediehen war, dass sie darüber reden, sein Erscheinen ankündigen konnte. Das interessierte in dieser Runde niemanden. Sehr schnell fand sie sich in die Rolle der dekorativen, aber stummen Teilnehmerin gedrängt. Die musste sie zu allem Überfluss auch noch mit dem Model teilen, das nach der Vorstellrunde kaum noch den Mund aufmachte. In der Zwischenzeit beschimpfte der alleinerziehende Vater den Ethnologen als frauenfeindlich, während der Arzt die Managerin angriff, weil deren Arbeitgeber die Menschheit systematisch vergifte. Und die achtfache Mutter wiederholte unbeirrt und stetig, dass eine Mutter und Hausfrau mit ganz anderen Problemen kämpfe als früher und eigentlich mehr Managerin sein müsse als Köchin und Putzfrau.
Die – für Eva – entscheidende Wendung trat ein, als der Arzt, ein attraktiver Mittvierziger ohne Ehering, sie um ihre Meinung bat.
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