Ballast oder Eva lernt fliegen
Wobei er ihr die passende Antwort zuvorkommender Weise gleich in den Mund legte.
„ Finden Sie nicht auch, dass unsere Ernährung ein viel zu wichtiges Thema ist, als dass man sie Konzernen überlassen dürfte, die letztendlich nur ihren Profit im Blick haben, nicht aber das Wohlergehen ihrer Konsumenten?“
Sofort beteuerte Eva ihre uneingeschränkte Zustimmung und nutzte die Tatsache, dass die Kameras endlich wieder auf sie gerichtet waren.
„Die Profitgier der Wirtschaftsbosse wird ja immer gerne mit der Notwendigkeit des wirtschaftlichen Aufschwungs bemäntelt“, fügte sie mit ihrem unwiderstehlichsten Lächeln hinzu. „So, als könne es uns Menschen nur gut gehen, solange die Wirtschaft Berge von nutzlosen Konsumgütern produziert – die dann gekauft werden müssen, damit noch mehr davon produziert werden können und die Leute genug Geld verdienen, um sich auch diese noch zu leisten. Ich bin der festen Überzeugung, dass der allgemeine Konsumwahn, angestachelt von der Werbeindustrie, nur dazu dient, uns zu knechten. So, wie all die überflüssigen Konsumgüter sich wie bleierne Gewichte an uns hängen, uns die Luft zum Atmen nehmen, so ist es doch auch mit all der industriell gefertigten Nahrung: Sie wird zu Ballast für unseren Stoffwechsel.“
Der Arzt übernahm begeistert das Stichwort und führte, einzig an Eva gewandt, all die Gefahren auf, die dem Stoffwechsel durch Zusatzstoffe und Nährstoffarmut drohten, was wiederum die Managerin veranlasste, zu betonen, wie sehr ihr Konzern darauf achte, dass seine Produkte sich für eine ausgewogene Ernährung eigneten. Eva jedoch war nicht bereit, sich wieder an den Rand des Gespräches drängen zu lassen. Sie nutzte die erste Atempause der Managerin, um ihr ins Wort zu fallen.
„Was wir wirklich brauchen, ist so wenig, dass sich daran kein großes Geld verdienen lässt. Das ist doch das eigentliche Problem. Eine gesunde Ernährung ist so einfach möglich, und muss nicht einmal teuer sein. Aber an ihr verdienen nur die Bauern und der Handel. Damit Leute wie Sie sich an unserer Ernährung mästen können, muss diese einfache und zweckmäßige Verbindung zwischen Landwirtschaft und Verbraucher gekappt und unendlich aufgebläht werden. Jede einzelne Karotte muss da erst eine Odyssee durch unzählige Länder zurücklegen, bis sie endlich in einer Konserve oder einem Tiefkühlfertiggericht im Supermarkt landet. Tatsächlich daran verdienen wird ein kleiner Kreis Privilegierter. Diejenigen aber, welche die eigentliche Arbeit leisten, Bauern und Fabrikarbeiter, werden mit Peanuts abgespeist, die kaum zum Überleben reichen. Wahrscheinlich lässt Ihr Konzern irgendwo auf dieser Welt auch noch Kinder für sich arbeiten, zum Wohle der Gewinnmaximierung. Und was ist das Ergebnis all dessen? Nahrungsmittel, die uns bestenfalls nicht vergiften.“
Eva lehnte sich zurück und holte tief Luft. Einen Augenblick wunderte sie sich, dass die Zeit nicht einfach stehen blieb, die Runde nicht in andächtiges Schweigen verfiel. Stattdessen machten sich die anderen vehement über ein Thema her, über das man getrost einer Meinung sein durfte: Die schamlose Ausbeutung von Kindern in der ganzen Welt. Es fiel Eva schwer, der Diskussion weiter zu folgen. Ihr dämmerte, was sie eben in größtmöglicher Öffentlichkeit von sich gegeben hatte. Sie fühlte sich überrumpelt und ausgelaugt, doch zugleich war sie stolz auf sich. Woher waren diese Worte gekommen? Wieder hatte sie die Wahrheit gesagt, die nackte, ungeschminkte Wahrheit. Sie fühlte es im tiefsten Inneren, obgleich ihr diese Wahrheit selbst nicht schmecken wollte. Gesunde, selbst zubereitete Nahrung? Kochen als Weg? Die Erleuchtung war erneut über sie gekommen, ungebeten. Und alle, wirklich alle, hatten es gesehen und gehört.
Ihre Lüge schob sich als gläserne Mauer zwischen sie und ihre Freunde. Mit keinem Wort gingen die drei auf ihr öffentliches Bekenntnis zur gesunden und natürlichen Ernährung ein. Sie selbst kapselte sich ab, ließ das Thema nicht zu, solange sie unter sich waren. Unter der Woche vermied sie es, in Arianes Gegenwart überhaupt etwas zu essen, zu groß war ihre Scham. Sobald die Freundin fort war schlug sie sich, ausgehungert wie sie war, den Bauch mit Tiefkühlkost voll, die ihr nun regelmäßig Magengrimmen verursachte. An den Wochenenden lösten sich Bernd und Heinrich beim Kochen ab, wodurch es einfach war, den Schein zu wahren.
In ihr tobte unterdessen ein Kampf und es gab nur einen
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