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Ballnacht in Colston Hall

Ballnacht in Colston Hall

Titel: Ballnacht in Colston Hall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Nichols
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sich in ein paar Hundert Fuß Entfernung über ihre Austernkörbe beugten, und die am Strand wartenden Eselskarren mit ihren riesigen Rädern.
    Vorsichtig hob Lydia die Jacke auf und wollte sie in ein Büschel Strandhafer werfen, als sie bemerkte, dass etwas Schweres darin sein musste. Sie tastete in eine der Taschen und zog ein in Ölhaut eingewickeltes Päckchen hervor. Ratlos drehte sie es hin und her. Sollte sie es der Küstenwache geben oder dem Steuereinnehmer? Aber wenn nun etwas Belastendes für einen der Dorfbewohner darin war? Durfte sie ihn in solche Schwierigkeiten bringen?
    Bei dem Gedanken an Schmuggler schoss ihr wie eine heiße Welle die Erinnerung an jene Begegnung im Wald durch den Kopf. Sie konnte den Kuss nicht vergessen, der so grausam und fordernd gewesen war und auf den sie doch geantwortet hatte – leidenschaftlich geantwortet. Scham ergriff sie, wenn sie sich vorstellte, Ralph Latimer könne annehmen, sie liebe eine derartige rohe Behandlung und seine Annäherung sei ihr erwünscht. Das war ein weiterer Grund, um ihn aus tiefstem Herzen zu hassen.
    Sie warf die Jacke ins Gras, steckte das Päckchen in ihre Manteltasche und rief nach Hektor, der inzwischen im Sand nach neuen Schätzen scharrte. “Komm, Hektor, wir gehen nach Hause!”
    Diesmal kam der Hund brav angetrottet und folgte ihr über den feuchten Sand und die Dünen auf den schmalen Weg, der durch das Moor führte. Der Pfad war wie geschaffen für Schmuggler, sofern sie den Unterschied erkannten zwischen festem Boden und dicht bewachsenem tückischen Morast, in dem auch der stärkste Mann spurlos versinken konnte. Man brauchte viel Ortskenntnis dafür. Es mussten Männer sein, die ihr Leben lang hier gelebt hatten – Männer, die sie kannte, seit sie auf ihren eigenen Beinchen durch die Dorfstraße getappt war. Nein, sie durfte sie nicht verraten.
    Als sie das Moor hinter sich gelassen und das feste Land neben den Wäldern von Colston erreicht hatte, war Hektor plötzlich verschwunden. Wahrscheinlich schnüffelte er zwischen den Bäumen nach wilden Kaninchen und würde wohl kaum auf ihr Rufen hören. Zwar hatte sich Lydia geschworen, nie wieder einen Fuß in diesen Wald zu setzen und lieber einen Umweg von zwei Meilen auf sich zu nehmen, doch sie konnte den Hund nicht einfach hier zurücklassen. Unschlüssig blieb sie stehen und lauschte auf das unheimliche Stöhnen des Windes in den Ästen, das ihr einen Angstschauer über den Rücken jagte.
    “Hektor!”, rief sie, und ihre Stimme klang unnatürlich laut. “Hektor, komm her, alter Bursche!” Aber nichts rührte sich.
    “Hektor! Hektor, wo bist du? Hektoooor!” Endlich schimmerte ein schwarz-weißes Fell durch das Unterholz. Mit freudigem Schwanzwedeln kam der Hund angetrabt, gefolgt vom Earl of Blackwater. Er trug einen Rock aus Wolltuch, Lederbreeches und Stiefel. In seinem Gürtel steckte eine Pistole. Dem Äußeren nach hätte man ihn für einen seiner Tagelöhner halten können.
    Lydia beugte sich hinab, um Hektor zu streicheln und damit zugleich ein Gespräch mit Ralph Latimer zu vermeiden, doch dieser blieb in ihrer unmittelbaren Nähe stehen und sagte laut und deutlich: “Guten Tag, Miss Fostyn.”
    Widerstrebend hob Lydia den Kopf und erwiderte kühl: “Guten Tag, Mylord.”
    “Kein schöner Tag heute.”
    “Nein, Mylord.”
    “Der Wind ist sehr steif, besonders entlang der Küste. Meint Ihr nicht auch?”
    “Ja, so ist es.” Lydia fragte sich, ob er sie wohl beachtet hatte, als sie das Päckchen an sich nahm. Würde er sie jetzt auffordern, es ihm zu geben? “Aber er wirkt auch sehr belebend”, fügte sie rasch hinzu.
    “Das mag sein. Zwischen den Bäumen ist man jedoch besser geschützt.”
    “Ich bin nicht in Euerm Wald gewesen. Nur der Hund ist hineingelaufen.”
    Ralph betrachtete das Tier genauer. “Ihr nennt ihn Hektor. Ist es noch derselbe Hektor?”
    “Ja, er ist Freddies Welpe – zwölf Jahre schon, aber immer noch unerziehbar.” Für einen kurzen Augenblick hingen beide ihren Kindheitserinnerungen nach. Dann fragte Ralph: “Kommt der Bursche eigentlich jemals, wenn man ihn ruft?”
    Die Erinnerungen verflogen.
    “Manchmal schon”, entgegnete Lydia. “Aber wenn er etwas Interessantes gefunden hat …” Sie hielt inne und wurde rot, denn sie musste wieder an das Päckchen denken.
    Ralph runzelte verwundert die Stirn. Das Mädchen erschien ihm merkwürdig verändert.
    “Was sollte er in meinem Wald schon finden?”
    “Kaninchen

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