Ballnacht in Colston Hall
diesmal steif und förmlich, und die Kinder hatten offensichtlich Scheu vor den fremden Damen. Constance und Faith, die beiden älteren, erwiderten nur einsilbig auf die Fragen, knicksten höflich beim Entgegennehmen der kleinen Aufmerksamkeiten und sagten in eingelerntem Ton: “Danke, Miss Fostyn.” Sie waren offensichtlich nicht bereit, die neue Mutter freundlich aufzunehmen, während die Jüngste, die sich zunächst ängstlich an die Schürze des Kindermädchens klammerte, das mitgebrachte Püppchen vergnügt begutachtete.
“Ich frage mich, ob die Kinder mich jemals als Mama akzeptieren werden”, bemerkte Lydia auf dem Heimweg zu ihrer Mutter.
“Aber natürlich, wenn man ihnen Zeit dafür gibt. Du musst dich in Geduld üben.”
“Du weißt doch, Mama, dass ich bis heute nicht verstehe, warum Sir Arthur ausgerechnet auf mich verfallen ist. Wir sind uns so unähnlich wie nur möglich. Er ist so ernst, beinahe wichtigtuerisch, und lächelt kaum einmal. Lachen habe ich ihn noch seltener gehört. Ich glaube, ich werde mich diesen hohen Maßstäben nie anpassen. Was glaubst du, hat ihn veranlasst, mich auszusuchen?”
“Du darfst dich nicht unterbewerten, mein liebes Kind. Du bist hübsch und lebhaft. Wer sollte an dir nicht Gefallen finden?”
“Und du bist zu meinen Gunsten voreingenommen, Mama.” Wieder einmal musste Lydia gegen ihren Willen an Ralph Latimer denken, obwohl dieser ja vollkommen sicher vor der Gefahr war, Gefallen an ihr zu finden.
“Vielleicht”, erwiderte die Mutter lächelnd.
Den Rest des Weges legten die beiden schweigend zurück. Lydia hing ihren Träumen von einem wunderbaren, reichen und mächtigen Mann nach, der sie rasend liebte und dem auch sie ihr ganzes Herz geschenkt hatte. Jeder würde sich bemühen, dem anderen nur Freude zu bereiten. Sie wären in unsterblicher Liebe miteinander verbunden und glücklich bis an das Ende ihrer Tage. Aber so etwas gab es nur in romantischen Liebesromanen.
Sie seufzte herzergreifend. Nach einer Weile des Nachsinnens hielt sie sich jedoch vor Augen, dass eine Beschäftigung mit unsinnigen Fantasien nichts ist als Zeitvergeudung und nur Herzeleid bringt. Es ist wohl besser, ich befasse mich mit den unabänderlichen Realitäten, nämlich mit meiner bevorstehenden Hochzeit und dem morgigen Besuch bei dem Earl of Blackwater, dachte sie niedergeschlagen.
Pünktlich um vier Uhr am folgenden Nachmittag schritten Mrs Fostyn und ihre Tochter Lydia auf den Haupteingang von Colston Hall zu. Lydia war zum ersten Male seit Ralphs Rückkehr wieder hier und trotz ihrer unverhüllten Feindseligkeit richtig neugierig auf die vorgenommenen Veränderungen.
Die Auffahrt und die Rabatten hatte man restlos von dem wild wuchernden Unkraut gesäubert. In seiner massiven Bauweise und mit dem zinnenartigen Dachabschluss wirkte das Haus wie eine Burg, und Lydia musste unwillkürlich an den Freitod der Countess denken, als sie empor blickte. Rasch drückte sie den Arm der Mutter fester an sich.
Das frisch lackierte Eingangstor stand weit offen. Ein Lakai erwartete die Gäste und führte sie in die große Empfangshalle mit ihrem marmornen Fußboden, dem großen Kamin und der reich geschnitzten geschwungenen Treppe, die nach rechts und links in das Obergeschoss führte. In halber Höhe befand sich auf dem Treppenabsatz ein hohes Fenster, und rund um das erste Stockwerk lief eine Galerie, von welcher in regelmäßigen Abständen Türen in die jeweiligen Räume führten.
Über den Türen waren die Mauern mit riesigen Wandgemälden geschmückt – auf der einen Seite eine friedliche Hirtenszene und auf den anderen das wild bewegte Bild einer Schlacht. Hingerissen legte Lydia den Kopf in den Nacken, um die Kunstwerke zu bewundern. “Du hast mir gar nichts davon erzählt, Mama”, flüsterte sie ihrer Mutter zu. “Das ist ja wie in einem Märchenschloss.”
“Guten Tag, Mrs Fostyn. Guten Tag, Miss Fostyn.”
Lydia war so in die Betrachtung der Gemälde versunken gewesen, dass sie die Schritte des Hausherrn überhört hatte, und fuhr nun erschrocken herum. Ralph trug einen einfachen grauen Rock aus Kaschmir, dazu hellbraune Hosen und ebensolche Strümpfe sowie eine kurze braune Perücke. Sein Lächeln erinnerte sie lebhaft an den Fremden mit dem Regenschirm – nicht ganz, aber immerhin …
Die Mutter knickste höflich und erwiderte: “Guten Tag, Mylord.”
Entgegen ihrer Absicht folgte Lydia ihrem Beispiel und schalt sich sogleich wegen ihrer Schwäche, denn sie
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