Ballnacht in Colston Hall
mit dir?”
Erschrocken fuhr die Mutter zusammen. “Nichts, mein Kind. Ich finde den Saal auch herrlich. Aber woher wusstet Ihr, wie er früher ausgesehen hat, Mylord? Er wurde doch seit vielen Jahren nur noch als Aufbewahrungsort für alte Möbel und ähnliche Gegenstände benutzt.”
“Ja, ja”, erwiderte Ralph lachend. “Ihr würdet staunen, wenn Ihr wüsstet, was für merkwürdige Dinge zum Vorschein kamen, als er ausgeräumt wurde: ausgestopfte Vögel, zerbrochene Statuen von Vaters Reise in die Türkei, alte Truhen, verstaubte und von Mäusen angefressene Vorhänge, modrige alte Dokumente und gebündelte Briefe …”
“Briefe?” wiederholte Mrs Fostyn betroffen.
“Ja.” Ralph unterdrückte ein wissendes Lächeln, denn er hatte auch einen kleinen Stapel Briefe von ihr an den Vater gefunden, säuberlich mit einem roten Band zusammengehalten. Aber sie enthielten nichts, dessen sie sich schämen müsste, und bei passender Gelegenheit würde er sie ihr zurückgeben. “Auf diese Weise erfuhr ich auch, wie der Saal zu restaurieren war, denn unter den Dokumenten war auch die Anweisung meines Großvaters an den Architekten.”
“Ach, deshalb!” Die Mutter schien sehr erleichtert zu sein. “Ich war überrascht, wie sehr er dem früheren gleicht.”
“Ich dachte mir, dass Ihr Euch daran erinnern würdet.”
“Du bist schon einmal hier gewesen, Mama?”, fragte Lydia überrascht.
“Ja, als ich noch jung war. Der erste Earl und seine Frau gaben viele Bälle, und ich gehörte zu den Glücklichen, die dazu eingeladen wurden.”
“Der erste Earl war mein Großvater”, erläuterte Ralph, zu Lydia gewandt. “Ich nehme an, Eure Mutter spricht von der Zeit vor der Heirat meiner Eltern.”
“Oh ja, natürlich. Danach war ich nie mehr hier.”
Lydia musterte die Mutter eindringlich. Ihre Wangen waren gerötet, aber sie blickte dem Hausherrn dennoch in einer so offenen Art in die Augen, als wolle sie ihm etwas versichern, ohne die Worte dafür zu gebrauchen. Es musste schwer sein, wortlos gegen Gerüchte ankämpfen zu müssen. Eine Welle von Zärtlichkeit überflutete Lydias Herz. Ob Ralph Latimer die Mutter wohl hierher gebracht hatte, um sie eines Treuebruchs zu überführen? Ach, er war wirklich ein hassenswerter Schurke!
“Wir sollten nun wieder hinunter in das Wohnzimmer gehen und den Tee nehmen”, schlug der Earl vor. “Dann erkläre ich auch, warum ich die Damen heute zu mir gebeten habe.”
Mrs Fostyn und ihre Tochter folgten ihm in ein kleines, mit auserlesenem Geschmack möbliertes Wohnzimmer, wo ein Lakai bereits mit dem Tee wartete. Die nächsten Minuten vergingen mit dem Ritual des Tassenfüllens und des Anbietens des Gebäcks, währenddessen Lydia vor Ungeduld zu zittern begann. Was mochte dieser Mensch nur im Schilde führen?
“Würdet Ihr es für eine gute Idee halten, demnächst einen Ball in Colston Hall zu geben, Mrs Fostyn?”, fragte Ralph schließlich unvermittelt.
“Nun, wenn es Euer Wunsch ist, sehe ich keinen Grund, es nicht zu tun”, erwiderte die Mutter.
“Wäre es nicht vielleicht noch ein bisschen zu früh dafür?”
“Ich denke, die Leute würden sich freuen, wenn Ihr auf diese Weise kundtut, dass Ihr hier zu bleiben und mit ihnen zu leben gedenkt.”
Ralph nickte. “Das ist genau meine Absicht gewesen. Ich danke Euch, dass Ihr mich darin bestärkt habt.”
“Ich verstehe nicht, warum Euch Mutters Meinung so wichtig ist”, mischte sich Lydia ein. “Wir werden doch bald von Colston wegziehen.”
“Weil es wichtig ist, dass Eure Mama und ihre Töchter anwesend sind”, sagte der Hausherr lächelnd.
“Damit Ihr über uns triumphieren könnt”, versetzte Lydia zornig. “Ich habe dir doch gesagt, Mama, dass es darauf hinauslaufen wird, nicht wahr?”
“Aber Lydia!” Die Mutter errötete vor Verlegenheit.
Doch der Earl blieb ganz ruhig. “Nein, das hatte ich nicht im Sinn. Ihr sagtet vielmehr selbst, ich könne etwas gegen die Gerüchte tun, wenn ich nur wollte, und Ihr hattet recht damit. Ich möchte mit dem Ball jedermann zeigen, dass die Latimers und die Fostyns keine Feindschaft gegeneinander hegen und in Frieden miteinander leben können. Dann müssen sich die beiden Parteien, die sich jetzt gebildet haben, wohl oder übel auch dazu bereitfinden, ihren Streit zu begraben.”
“Wirklich sehr lobenswert”, entgegnete Lydia spitz. “Aber wir müssen das auch beide wollen.”
“Sehr richtig. Ich für meinen Teil wünsche mir nichts mehr, als
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