Ballsaison: Palinskis siebter Fall
gegangen, hätte ich im Mai die Uni kein einziges Mal von innen gesehen«, wehrte sie seine stürmischen Versuche mit liebevoller Strenge ab. »Wenn es dir egal ist, wie lange du für dein Studium brauchst, ist das deine Sache«, stellte sie dann ernsthaft fest. »Aber ich möchte mit meinem so rasch wie möglich fertig werden. Verstehst du ?« Jetzt gab sie ihm einen liebevollen Klaps auf den Oberarm, dann noch einen Kuss auf die Wange und verschwand in dem altehrwürdigen Gebäude am Ring.
Eigentlich wäre es für Harry jetzt vernünftiger gewesen, nach Hause zu fahren und auch wieder einmal einen Blick in die Bücher zu riskieren. Immerhin hatte der inzwischen beim Studium der Informatik gelandete Student in zwei Wochen eine Prüfung. Doch das Wetter war herrlich, der Tag noch jung und Harry absolut nicht in der Stimmung zum Büffeln.
So schlenderte er hinüber zum Rathausplatz mit seinem seit dem 24. Januar des Vorjahres laufenden Countdown-Zähler. Die riesige, rückwärts ablaufende Uhr hatte bei 500 Tagen 00 Stunden 00 Minuten und ebenso vielen Sekunden zu laufen begonnen. Gerade jetzt zeigte sie 004 04 28 13 an und sofort danach schon wieder weniger.
Auf dem riesigen Platz war für die Dauer von drei Monaten eine richtige Sportanlage errichtet worden. Hier konnten Kinder und Jugendliche unter Anleitung erfahrener Trainer, oft sogar auch prominenter Sportler, ihre leichtathletischen und sonstigen Talente testen. Man konnte hoch, weit, dreifach springen und das mit oder ohne Anlauf und Stab. Man konnte mit den verschiedensten Sportgeräten werfen, ohne befürchten zu müssen, jemanden damit ernsthaft zu verletzen, und laufen, jede Menge laufen. Eingerahmt war diese wunderbare Anlage von zahlreichen Fressständen, die den wartenden Eltern und sonstigen Zaungästen den gleichen Fraß anboten wie zu Weihnachten, in der Osterwoche und die Zeit vorher und danach.
Vier riesige Videowalls, auf denen man die EM-Spiele in Echtzeit würde beobachten können, rundeten das verrückte Angebot ab. Mit dieser ›Fan-Arena‹ wollte man die erfolgreichen Fanmeilen der letzten Fußballweltmeisterschaft in Deutschland noch übertreffen.
Der kunterbunte Multikultikochgeruch, eine Mischung aus Schaschlik, Pasta, Curryreis, Gröstel und was der Teufel noch alles, trieb Harry allerdings rasch wieder in die Flucht. Nicht dass er all diese Schmankerln nicht gerne gegessen hätte, zumindest gelegentlich. Aber nicht jetzt und vor allem nicht in diesem widerlichen, alles überlagernden olfaktorischen Potpourri.
So flüchtete er in den Vorgarten eines kleinen in der Felderstraße gelegenen Beisls, das für seine große Auswahl an sowohl süßen als auch pikanten Strudel, kalt oder warm und das zu jeder Tageszeit, bekannt war.
Wie das Haupttor zum Stephansdom und wahrscheinlich alle anderen bedeutsamen Zugänge in der Stadt wurde auch der hier gelegene Seiteneingang des Rathauses von der Polizei streng bewacht, der Zugang penibel kontrolliert. Eine mittellange Schlange Wartender stand geduldig an, um sich überprüfen zu lassen, ehe sie die im Arkadenhof stattfindende Ausstellung ›Vom Wunderteam zum Europameister 2008 ?‹ aufsuchen durfte. Offenbar eine satirische Aufbereitung der alpenländischen Erfolgsstory in Sachen Fußball.
Da sollte bloß jemand behaupten, der Wiener Bürgermeister hätte keinen Humor!
Komisch, zwei der wartenden Kinder hatte Harry heute schon einmal gesehen. Ohne Zweifel, die beiden waren am Vormittag mit ihren Eltern beim Stephansdom angestanden. Er war sich absolut sicher, auch die Kleine hatte ihn wiedererkannt. Ein scheues Lächeln legte sich auf ihr Gesicht, und sie deutete mit der linken Hand ein verschämtes Winken an. Die beiden hatten noch immer Stiefel an, diese klobigen Dinger, die sich bei Schlechtwetter so gut bewähren. Nein, eigentlich schon wieder. Denn im Gegensatz zu heute Vormittag waren die Treter jetzt nicht gelb, sondern blau.
Komisch, andererseits gab es Uhrbänder für alle Tageszeiten, warum nicht auch Regenstiefel? Allerdings, bei strahlendem Sonnenschein? Aber warum nicht? Jeder sollte und konnte anziehen, was er wollte, das war ja das Schöne an einer freien Gesellschaft.
Apropos freie Gesellschaft: Was Harry mit der Zeit zu irritieren begann, war die zunehmende Omnipräsenz der Sicherheitskräfte in Wien. Wohin man ging, überall traf man auf die in kleinen Gruppen auftretende Polizei. Nicht die vertrauten Wachmänner, sondern martialisch aussehende und sich mit ihren
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