Balthazar: Roman (German Edition)

gewesen sein musste.
    Auch wenn Balthazar wusste, dass er selber kein guter Ratgeber war, was den richtigen Umgang mit Trauer anging, sagte er: »Sie sollten dich nicht so viel alleine lassen.«
    »Das ist ihre Art, mit der Sache klarzukommen. Wenn ihnen wehgetan wurde, arbeiten sie mehr. Und seit letztem Sommer arbeiten sie härter als jemals zuvor in ihrem Leben.« Balthazar war überrascht, dass Skye ein so tiefes Verständnis für ihre Eltern aufbringen konnte. Er selber war sehr viel länger als Skye auf der Erde gewesen, ehe er es geschafft hatte, jenseits seines eigenen Schmerzes die Qualen eines anderen zu sehen. »Sie lassen mir kleine Nachrichten zurück oder bringen mir etwas mit, um mir eine Freude zu machen. Ich weiß, dass sie mich lieben. Es ist in Ordnung, wie es ist.«
    Ihr Zimmer war ein farbenfroher Ort mit lavendelfarbenen Wänden und einer breiten Steppdecke auf dem Bett. Auf einem Regal drängten sich glänzende Reittrophäen und Siegerschleifen. Einige selbst gemachte Kunstwerke hingen an den Wänden: eine Collage, die zum größten Teil aus Zeitungsausschnitten bestand und die viel zu aggressiv wirkte, um von Skye zu stammen. Daneben entdeckte Balthazar ein vergrößertes, eingerahmtes, mit Photoshop bearbeitetes Foto von Skye, zusammen mit einem anderen Mädchen, das er aus Evernight kannte, nämlich mit Clementine Nichols. Trotzdem wirkte das Zimmer ein wenig kahl, was vielleicht nur daran lag, dass Skye so lange in einem Internat gewesen war.
    Vielleicht aber gab es auch einen anderen Grund dafür: Auf einem der Regalbretter, die allesamt mit einer dünnen Staubschicht bedeckt waren, konnte Balthazar noch Abdrücke sehen, wo einst eingerahmte Fotos gestanden haben mussten. Es konnte noch nicht lange her sein, dass sie weggeräumt worden waren. Bestimmt waren es Fotos von Dakota gewesen, dachte Balthazar. Skyes Eltern waren nicht die Einzigen in der Familie, die auf Schmerz mit Verdrängung reagierten.
    Skye fuhr fort: »Außerdem hatten meine Eltern noch nie massenhaft freie Zeit, jedenfalls nicht, seitdem sie mit ihrer Lobbyarbeit in Albany begonnen haben. Deshalb ja auch das Internat.« Skye kam aus ihrem Badezimmer, und Balthazar sah kurz zu ihr – jedenfalls war das seine Absicht gewesen. Stattdessen konnte er seinen Blick einfach nicht mehr von ihr abwenden. Sie trug ein schwarzes T-Shirt und Leggins, und beide schmiegten sich eng an ihren geschmeidigen Körper, von den Brüsten über die Taille bis zu den Hüften und den Oberschenkeln …
    Keine Menschen , rief er sich in Erinnerung und dachte an Jane. Aber die alte Regel schien aus einer längst vergangenen Zeit zu stammen.
    Skye konnte ihm nicht richtig in die Augen schauen, als ob sie wüsste, was er gerade dachte. Dann, als sie doch wieder zu ihm aufsah, spürte er es beinahe körperlich. Hitze durchströmte ihn, und es fühlte sich an, als ob wieder Blut durch seine Adern rauschen würde. »Also dann, wenn du wirklich bis morgen früh bei mir bleiben willst …«
    »Das sollte ich besser«, sagte Balthazar, auch wenn sich seine eigenen Aussichten auf ein bisschen Schlaf gerade dramatisch verringert hatten. Dies würde eine unruhige Nacht werden.
    »Tja, also die kleine Couch vor dem Fenster könnte ausreichen. Aber du bist ein großer Kerl; vielleicht wird das nicht besonders gemütlich für dich.«
    Balthazar ließ seine Blicke zu der nicht gerade großen Liege wandern, die als Einziges im Raum eher zu einem Kinderzimmer zu gehören schien, als dass sie zu einer jungen Frau passte. »Ich würde doch nie die heilige Ruhe auf diesem Friedhof der ausgestopften Tiere stören.«
    »Das sind doch nur meine alten Spielsachen.« Skye versuchte, beiläufig zu klingen, aber Balthazar sah, wie vorsichtig sie die ausgestopften Teddys und Hunde hochnahm und auf den Boden legte. »Siehst du, das ist fast wie ein richtiges Sofa. Meine Freundinnen haben immer darauf geschlafen, wenn sie bei mir übernachtet haben. Aber wenn du meinst, dass du da nicht richtig raufpasst, dann kann ich auch dort schlafen. Dann kriegst du mein Bett.«
    Dies setzte alle möglichen gefährlichen Gedanken in Gang. Hör auf damit , sagte er zu sich selbst . Ihr Teddybär befindet sich noch in diesem Zimmer. Es ist gar nicht lange her, dass sie noch ein Kind war.
    Aber jetzt ist sie kein Kind mehr.
    Hör auf damit.
    Sein Handy vibrierte im gleichen Augenblick wie das von Skye, und es war eine willkommene Ablenkung von seiner momentanen Verlegenheit, wie er hoffte.