Balthazar: Roman (German Edition)
Verrückte. Zwar liefen ihr Tränen über die Wangen, aber ihr Gesichtsausdruck war leer. Sie hob ihre gefesselten Handgelenke, um an den Enden ihrer lockigen Haarsträhnen zu reißen, so fest, dass es schmerzen musste. Sie verzog jedoch keine Miene. Ihr ganzer Körper bebte.
Jane war gefasster. In ihren Augen lag Entsetzen, aber sie setzte sich aufrecht hin und kämpfte sichtlich darum, ruhig zu bleiben. Auf einer ihrer Wangen glänzte Blut. Balthazar stellte sich vor, wie er es ableckte.
Dann konnte er plötzlich alles hören. Das Stampfen und Schnauben des Pferdes und der Kuh – den Wind, der durch das hohe Gras draußen fuhr, und das Schlagen von Charitys und Janes Herzen. Das Rauschen des Blutes in ihren Adern.
Blut. Das war es, was er jetzt brauchte.
Seine Kiefer begannen zu schmerzen, und seine Reißzähne schoben sich hervor.
»Du brauchst etwas zu essen«, sagte Constantia. »Du kannst eine von den beiden hier haben.«
»Haben?« Balthazar verstand nicht.
Dann aber traf ihn die Erkenntnis.
Er stürzte sich auf Redgrave, versetzte dem Mann einen Stoß und zielte auf sein Gesicht. Doch er wurde mit solcher Wucht zurückgeworfen, dass er gegen die Wand des Stalles prallte und diese beinahe zum Zersplittern brachte. Ehe Balthazar sich wieder aufrappeln konnte, packte Redgrave ihn an den Haaren und rammte ihm die Faust ins Gesicht, dann noch einmal und ein drittes Mal, bis Balthazar das Blut – was nicht genug Blut für sein Verlangen war – in die Nase, die Ohren und in die Augen lief.
Jane und Charity schrien und schrien, und Balthazar schienen diese Laute aus großer Ferne zu kommen.
Erst als er zu schwach wurde, um sich noch auf den Beinen zu halten, ließ Redgrave von ihm ab. »Das war unangenehm, nicht wahr?« Er klang völlig unbeeindruckt. »Du bist erst einen einzigen Tag alt, mein Junge. Ich habe dir etliche Jahrhunderte voraus. Wenn du jetzt weiter gegen mich kämpfen willst, wirst du das Gleiche noch einmal erleben. Nur dass du beim nächsten Mal vorher zusehen darfst, wie ich die beiden Mädchen zurichte.«
»Balthazar, was geschieht hier?«, fragte Jane. Ihre Augen waren rot, ihre Stimme heiser. »Wer sind diese Leute? Sind das Dämonen?«
Charity, die noch immer zusammengekauert auf dem Boden lag, wippte mit dem Körper vor und zurück. Schon vorher hatte sie verstört gewirkt, jetzt hatte es den Anschein, dass sie jeden Bezug zur Realität verloren hatte. »Ringel, Ringel, Reihe …«
Redgrave machte einen Schritt auf die beiden zu. »Eines dieser Mädchen wird Vampir werden. Und du bist derjenige, der sie dazu macht. Sie sind bereits gebissen worden; oh, vertrau mir, ich habe einen großen Schluck genommen. Das bedeutet, dass sie vorbereitet sind. Alles, was du tun musst, ist, ihr Blut zu trinken, bis sie tot ist.«
»Niemals werde ich …« Die Worte erstarben in Balthazars Mund. Er konnte nur noch an den Rest des Satzes denken: … werde ich ihr Blut trinken.
»Glaubst du wirklich, deine Weigerung wird ihnen das Leben retten? Das wird es nicht. Aber ich will, dass du die Sache zu Ende bringst, Balthazar. Ich will die Freude in deinem Gesicht sehen, wenn du das erste Mal tötest. Und ich liebe die Vorstellung, dass ich dich dazu zwinge, dein Mordopfer auszuwählen: Nimmst du deine Schwester oder deine Geliebte?«
Jane versuchte aufzustehen, aber Constantia stieß sie wieder zu Boden. Charitys Stimme wurde immer weicher, während sie vor sich hin sang: »Ringel, Ringel, Reihe, sind der Kinder dreie, sitzen unterm Hollerbusch …«
Sie ist verrückt , dachte Balthazar, als er seine Schwester ansah. Das war sie schon immer, jedenfalls ein bisschen, aber jetzt hat sie vollends den Verstand verloren. Sie wird sich niemals wieder fangen.
»Welche der beiden sollen wir zu dir bringen, Balthazar?«, fragte Constantia. »Entscheide dich schnell, sonst müssen wir dafür sorgen, dass sie dich anflehen, sie auszuwählen. Und du willst uns nicht dabei zusehen, glaube mir.«
Jane schüttelte in zunehmender Verzweiflung den Kopf. »Lass es nicht zu, dass sie das tun. Warte noch, irgendjemand wird kommen …«
Balthazar war noch nie so voller Zorn gewesen, und doch war der Hunger in ihm schlimmer als seine Wut. Er konnte nicht denken, konnte nicht sprechen. So war es also, wenn man aufgehört hatte, ein Mensch zu sein und stattdessen zur Bestie geworden war. Sogar das Pochen der Herzen machte ihn rasend.
Der Teil seines Gehirns, der sein eigener geblieben war, sagte ihm: Charity ist am
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