Baltrumer Bitter (German Edition)
Mit welchem
Recht hatte sie ihm den Umgang mit seinem Sohn verweigert? Und er hatte mit
dieser Wut nirgendwo hingekonnt. Die Frau war tot, und seinen Sohn hatte er mit
seinem Zorn nicht konfrontieren wollen.
Erst seit ein paar Tagen hatte die Empörung langsam
nachgelassen und einer reinen, kindlichen Freude Raum gemacht. Er hatte immer mehr
Gemeinsamkeiten zwischen Frank und sich entdeckt. Wie der junge Mann an seiner
Nase rieb, wenn er nachdachte. Wie sich seine Haare langsam lichteten. Genau an
den gleichen Stellen hatte es bei ihm angefangen. Manchmal hatte er das Gefühl
gehabt, in einen Spiegel zu schauen, wenn er seinen Sohn ansah. Und jetzt? Über
zwanzig verlorene Jahre und dann das.
Sein Sohn war tot. Er fühlte nur noch Leere in sich. Eine
verdammte, bodenlose Leere.
Eine Viertelstunde, hatte Lohmann gesagt. Was glaubte dieser
Schmierlappen eigentlich, mit wem er es zu tun hatte? Wieso meinte der Mann,
ihn ins Rathaus zitieren zu müssen? Jan Wybrands ballte seine Fäuste. Dieser
fleischgewordene Angelhaken war das Letzte, was diese Insel verdient hatte.
Obwohl er selbst andererseits nicht so schlecht mit dem Mann gefahren war. Der
Bürgermeister war immer bereit gewesen, ihm auch mal an der Legalität vorbei
ein paar Ausnahmegenehmigungen zum Wohle der Bürger zu erteilen. Bis der Gemeinderat
in seinen wenigen Sitzungen dahinterkam, war die Kuh bereits vom Eis. Die Bauarbeiten
längst abgeschlossen. Kurze Wege in der Verwaltung waren für einen
Bauunternehmer oft die halbe Miete. Darum hatte Wybrands die primitive
Arroganz dieses Mannes bisher klaglos ertragen. Er würde sehen, was Lohmann von
ihm wollte. Mühsam kam er hoch, klemmte seine Aktentasche unter den Arm und
machte sich auf den Weg.
Im Flur des Rathauses kam ihm Lohmannn bereits entgegen, sein
Gesicht voller Ungeduld. »Wo bleiben Sie denn, Mann?«, herrschte der Bürgermeister
ihn an.
Wybrands hätte ihm am liebsten eine geknallt. Gerade noch
konnte er sich beherrschen. »Was gibt es Dringendes, dass Sie mich hierher
zitieren?«
»Haben Sie denn noch gar nicht gehört, dass Ihr Angestellter
tot ist? Der und seine charmante junge Begleiterin waren hier. Gestern bei mir
im Büro. Was natürlich die Polizei bereits mitbekommen hat. Und genau das,
lieber Herr Wybrands, muss ich nicht noch einmal haben. Bisher sind unsere Geschäfte
immer zur beidseitigen Zufriedenheit gelaufen. Aber so geht das nicht. Wenn Sie
Ihre Leute nicht unter Kontrolle haben, dann ist das Ihre Sache. Damit will ich
nichts zu tun haben. Kontakt mit den Gesetzeshütern zieht gerne genaues
Hinsehen seitens der Obrigkeit nach sich. Um es mal vornehm auszudrücken.
Nicht, dass wir etwas zu verbergen hätten … « Der Bürgermeister lachte zynisch.
»Also zumindest ich nicht.«
Wybrands holte mit seiner Aktentasche aus. Es klapperte dumpf,
als der metallenene Verschluss auf die linke Wange des Bürgermeisters traf. Im
Umdrehen hörte Wybrands nur noch ein dumpfes Stöhnen, bevor er das Rathaus
verließ.
Er setzte sich auf eine der Bänke auf dem Marktplatz und atmete
tief durch. Das war mit Sicherheit das Ende der beiderseitigen
Geschäftsbeziehung. Aber das konnte er nicht ändern. Dieser Mann hatte kein
Recht, so über seinen Sohn und Klara herzuziehen.
Er verstand sowieso nicht, was den Mann da gerade geritten
hatte. Was hatte Lohmann zu verbergen? Warum reagierte der so nervös auf die Anwesenheit
der Polizei? Auch wenn er ganz unaufgefordert den Versuch gemacht hatte, genau
das abzustreiten? Oder hatte der sich nur wichtig machen und ihn kleinkriegen
wollen? Oder sollte noch etwas ganz anderes dahinterstecken? Etwas, das
Wybrands sich im Moment überhaupt gar nicht ausmalen wollte. Das sich aber von
Minute zu Minute mehr und mehr in seine Gedanken drängte. Wovor hatte der Bürgermeister
dieser Insel Angst? Er würde ihn im Auge behalten. Doch nun musste er erst
einmal zur Polizei. Das hatte er dem Beamten versprochen.
Er fühlte sich unwohl. Immerhin hatte er dem ersten Mann der
Insel gerade seine Aktentasche an die Birne geknallt. So was gehörte
normalerweise definitiv nicht zu seinem Tagesablauf. Verbal, da konnte er
austeilen. Aber so? Er war gespannt auf Lohmanns Reaktion. Vielleicht war die Anzeige
schneller bei der Polizei, als er laufen konnte, und er würde beim Betreten der
Wache auf der Stelle festgesetzt. Sollte er sich also lieber den Gang zur
Polizei sparen? Sich zurückhalten und mit dem nächsten Schiff abreisen?
Wybrands überlegte. Entschied
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