Banalverkehr - Roman
anders überlegen und mitkommen wolle. Schließlich gibt sie auf und steigt alleine ins Taxi, das sie in die Stadt bringen wird.
»Sie ist schließlich erwachsen«, sagt Edo, als sie weg ist, und ich nicke. Ich kann nichts mehr tun. Dabei sollte ich. Kraftlos bitte ich Edo, mich in den Arm zu nehmen, und erzähle ihm, wie es sich angefühlt hat, Itsy zu sein, und dass ich mir wünschte, ich hätte niemand anderen vor ihm gehabt. Dann hätte ich das, was Itsy erlebt hat, nicht so intensiv nachfühlen können.
»Vielleicht hätten wir sie nicht gehen lassen sollen«, sage ich schließlich, und natürlich hätten wir sie nicht gehen lassen sollen. Ich spüre es …
»Sie ist für sich selbst verantwortlich«, sagt Edo und legt die Ice Age - DVD in den Player. Damit bestimmt er, dass dies hier ein ganz normaler Abend wird. Dass wir jetzt nicht ausflippen, weil wir uns um Itsy sorgen, dass wir uns wie Erwachsene benehmen und Ice Age gucken und dass ich es mir eigentlich sparen kann zu sagen: »Aber jetzt stell dir vor, du hättest so gedacht, als es um mich ging.«
Dann hätte man vielleicht mich in dieser Nacht leblos auf der Toilette eines Clubs gefunden.
Gestorben an Herzversagen nach einer Überdosis.
Itsys Mutter denkt, sie habe den Überfall nicht verkraftet und sich deswegen das Leben genommen.
Ich denke, es war ein Unfall, denn Itsy hat das Leben geliebt. »Es ist einfach dumm gelaufen. Ich habe erst gemerkt, wie weit ich es getrieben habe, da hatte das Herz schon aufgehört zu schlagen.«
Oder so ähnlich.
Ein Leben als unendlicher, endlicher Exzess.
Itsy ist tot.
Schulterzucken, lächeln, weitermachen.
Aber womit?
»Sie durfte jung sterben«, sagt ihre Mutter nun ein paar Tage später zu mir und lächelt traurig. »Sie wird für immer jung und schön bleiben.«
»Ja, das wird sie«, sage ich und schaue in den Sarg, der mit offenem Deckel in der Kapelle steht. Ihre langen blonden Haare liegen seidig glänzend auf ihren Schultern, ihre Lippen strahlen in einem hellen Rosa. Die Augen sind anders geschminkt als sonst. Irgendwie dezenter. Aber Itsy hat es ja auch nicht selber gemacht. Ich frage mich, ob sie sich gefallen würde, wenn sie sich jetzt sehen könnte. Nein, wahrscheinlich würde sie meckern, weil sie es zu brav fände. Trotzdem sieht sie wunderschön aus.
»Wach auf«, sage ich, aber ich weiß, dass es nur eine Floskel ist, die auf Beerdigungen oft gebraucht wird. Zumindest kenne ich das aus Filmen so, denn auf einer echten Beerdigung war ich noch nie, und ich hätte auch nicht erwartet, dass man als Anfänger gleich mit so einer harten Nummer konfrontiert wird. Ich dachte immer, dass vielleicht erst mal jemand stirbt, dem man nicht so nahesteht. Damit man sich irgendwie eingrooven kann oder so.
Und jetzt stehe ich hier und bin völlig überfordert.
In den Bankreihen sitzen nicht viele Menschen, aber genug, um zu sehen, dass Itsy von Bedeutung war. Ihre Mutter stellt mich ihnen als Itsys beste Freundin und ihr »drittes Kind« vor, dabei hatte ich sie doch erst einmal gesehen. Im Krankenhaus, an Itsys Bett. Und ich frage mich, wer »das zweite Kind« ist.
»Das ist Anja«, sagt sie, und ich schüttele die Hand eines großen, blonden Mädchens. Sie sieht aus wie Itsy, nur in moppelig und weniger zurechtgemacht. Itsy hat nie von ihrer Schwester erzählt. Anja meint, das läge bestimmt daran, dass sie nur als Verkäuferin beim Discounter arbeite. Das sei Itsy nicht schick genug gewesen. Ich lerne auch ihren Vater kennen, der die Familie verließ, als sie vier war, und mittlerweile eine neue Familie hat. Mit einer jüngeren Frau und zwei kleinen Söhnen. Itsys Chef, dem sie im Fall des Falles den Sargdeckel zumachen sollte. Ein paar von ihren alten Freunden aus der Grundschule, die sie noch kannten, als sie eine Zahnspange und den für die Neunziger typischen Bob mit hochgegeltem Igelpony hatte.
»Das sind Caro und Sven, die mit Isolde auf der Uni waren«, sagt ihre Mutter.
»Itsy hat studiert?«, frage ich. Sie habe sogar einen Abschluss als Fremdsprachenkorrespondentin, aber die Vorstellung von montags bis freitags an einem Schreibtisch zu sitzen und Sachen zu übersetzen, sei Itsy zu eintönig gewesen. »Was will man da machen?«, fragt ihre Mutter und lacht. Es irritiert mich.
»Was will der denn hier?«, zischt sie dann, und das Lachen ist ihr von einer Sekunde auf die nächste vergangen, als sie einen Mann beim Eingang entdeckt. Es ist ein dunkler Typ mit Anzug und Sonnenbrille, er
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