Banana Pancake Trail: Unterwegs auf dem vollsten Trampelpfad der Welt (German Edition)
Tag.
Kurz vor dem Einschlafen fällt es mir auf: Ich habe den ganzen Tag kein Wort gesprochen. Ich frage mich, ob man das Sprechen verlernen kann. Angenommen, das geht jetzt zwei Monate so weiter, brabbelt man dann irgendwann unverständliche Silbenruinen, so wie Kaspar Hauser, als er zum ersten Mal auf Menschen traf? Wie lange dauert es, bis man verbal verwildert? Wird es einem irgendwann egal, ob man einen Riesenpickel auf der Nase hat, ob man stinkt und Krallen anstatt Fingernägel hat? Wie lange muss man allein sein, bis man sich nicht mehr als Teil von etwas begreift? Bis man zum Solipsisten geworden ist, der andere Menschen für Produkte seiner eigenen Einbildung hält? Soll ich mir einen imaginären Freund zulegen? Wie lange kann ein normaler Mensch, also kein Fakir oder Mönch oder Waldschrat, allein sein, bis er irreparable Schäden erleidet?
Ich schlafe ein, stehe auf, fahre weiter. Die Fortbewegung ist zum Selbstzweck geworden. Ich könnte den Orten, die ich immer nur kurz vor Sonnenuntergang und kurz nach Sonnenaufgang sehe, eine Chance geben. Ich könnte aussteigen, länger dort bleiben, darauf hoffen, Gleichgesinnte zu treffen. Aber ich muss weiter. Weg aus den USA, weg aus dem Norden, nach Süden, dorthin, wo es immer warm ist.
Draußen zieht die immer gleiche, sandig-sonnige Landschaft vorbei. Ab und zu ein Haufen Müll auf der Straße. Das hypnotische Wackeln des Busses, die immer selben Liebeslieder, «corazón», «amor», blablabla. Am dritten Tag denke ich Gedanken, die zu denken ich noch nie Zeit hatte; an das Mädchen, in das ich in der siebten Klasse verliebt war, und ob ich sie heute immer noch gut fände. Wahrscheinlich nicht. An das Pausenbrot in der dritten Klasse, das sich erst nach drei Wochen seinen Weg aus meinem Scout-Schulranzen ins Freie bahnte – wie faszinierend Kolli, Gierli und ich den Verfaulungsprozess fanden, unsere Grundschullehrerin dagegen nicht. Die zweite Klasse, das Pausenbrot, was kam danach? Was war da? Was ist noch an Erinnerungen in meinem Kopf? Die Sommer am See, das Jucken der Bremsenstiche. Der Gierli … was macht der wohl jetzt? Der … Ich nicke ein, wache irgendwann wieder auf. Ich bin noch immer da und allein in einem Bus mit schweigenden, etwas grimmig dreinblickenden Latinos und einem Dutzend lebendiger Hühner. Wenn ich wieder daheim bin, werde ich mein Zimmer grau streichen; ich werde eine Wand grau streichen, ganz sicher, oder blau. Wenn ich wieder daheim bin …
Ich kralle mich an irgendwelchen Gedanken fest, weil mir mulmig wird. Ich käue sie immer wieder, betrachte sie aus allen möglichen Perspektiven. Der Bus hält. Ich gehe schlafen, stehe auf, fahre weiter. Und auch heute wieder sind die einzigen Wörter, die ich spreche: «Cama», «¿Cuánto cuesta?» und «Sí, gracias». Wie lange hält das ein Mensch aus? Foltern sie Leute in Guantánamo nicht genau so, mit Einzelhaft, vollkommener Isolierung?
Ich spreche meinen Sitznachbarn, einen dicklichen älteren Mann mit Baseball-Cap, auf Spanisch an. Nur: Ich kann so gut wie kein Spanisch. Deswegen grinst er nur und nickt. Der Typ vor mir redet dafür mit der Geschwindigkeit einer Maschinengewehrsalve auf mich ein. Worte prasseln auf mich herab, ein romanischer Silbenregen. Nutzlos, weil unverstanden, rieseln sie zu Boden.
Am vierten Tag bekomme ich Angst, durchzudrehen oder zumindest eine kleine Neurose davonzutragen, einen Sprachfehler, einen sonderbaren Tick oder eine Verhaltensstörung. «Warum zwinkert der Typ da immer so irre?», werden die Leute tuscheln, wenn sie mich sehen. «Ach, der war eine Woche lange allein, seitdem hat er diesen Tick.» Vielleicht fange ich an, Stimmen zu hören. Einfach so aus Einsamkeit, damit ich überhaupt mal wieder eine deutsche Stimme höre, bilde ich sie mir halt ein. Daraus entwickelt sich dann eine ausgewachsene, handfeste Psychose. Daheim werden sie sagen: «Er war auf einer Reise zu lange allein, da hat es ihn psychisch zerbröselt.»
Vielleicht ist zu langes Alleinsein einfach gefährlich, so wie Heroin spritzen, ohne Helm Motorrad fahren oder eine Woche nicht schlafen. Vielleicht gehört es zu jenen Dingen im Leben, die man einfach nicht tun sollte. Und wer sich doch freiwillig in die Einsamkeit begibt und deswegen durchdreht, der ist eben selbst schuld. «Mi corazón, mi corazón», dudelt das Liebeslied, ein Huhn gackert, die Latinos im Bus schweigen. Ich übernachte in einem Raum, der mehr Sperrholzverschlag als Zimmer ist. Warum soll ich
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