Baphomets Bibel
eigentlich nicht unbedingt wetterfühlig sein, aber Marie war es trotzdem. Trotz des langen ausgefüllten Tages, der hinter ihr lag, fühlte sie sich nicht müde oder kaputt. Sie war voll da. An Schlaf war nicht zu denken, und so dachte sie auch nicht daran, in ihre Bude unter dem Dach zu gehen. Es war ja nicht mehr als eine Kammer, in die soeben ein Bett, ein Stuhl und ein Schrank hineinpassten.
Auch ihr Onkel und ihre Tante schliefen dort, und man teilte sich ein kleines Bad.
Ihr Onkel war verschwunden, nachdem auch John Sinclair sie verlassen hatte. Und das ärgerte sie. Dieser Gast hatte ihr nicht den Eindruck eines Mannes gemacht, der unbedingt so müde war und sich hinlegen musste. Er war ihrer Meinung nach recht fit gewesen, und es ärgerte sie jetzt, dass er sie allein gelassen hatte. Das ging irgendwie gegen ihre Ehre.
Marie war recht scharf auf ein kleines Abenteuer. Das hatte sie durch die körperlichen Signale zu verstehen gegeben, aber er hatte nicht reagiert und war einfach gegangen.
Geputzt hatte sie noch und dabei immer nach der Flasche Rotwein geschielt, die auf der Theke stand. Sie war nicht mehr ganz voll. Zwei Gläser fehlten, und Marie wusste, dass ihr Onkel den Wein getrunken hatte.
Er gehörte zu den Menschen, die nur einen guten Wein tranken. So war es auch bei ihr. Der normale Tischwein schmeckte ihr nicht. Wenn sie einen Roten trank, dann musste dieser sehr kräftig sein und ihr auch schmecken.
Aus dem Regal holte sie ein bauchiges Rotweinglas und füllte es knapp über die Hälfte. Dann setzte sie sich an einen Tisch. Sie zündete sich eine Zigarette an, rauchte, trank und hielt ihr Gesicht gegen den Wind, der durch das offene Fenster wehte.
Das Kribbeln blieb. Es steckte einfach in ihr. Sie musste immer wieder an den Gast denken. Verdammt, ihren letzten Freund hatte sie verlassen, weil er ihr einfach zu langweilig gewesen war. Was hier herumlief, taugte nicht viel. Und bei den Touristen verhielt es sich nicht anders. Paris war nicht zu weit entfernt, und immer öfter dachte sie an die Stadt an der Seine.
Dort zu leben, dort zu wohnen. Dahin zu ziehen. Das war einfach ein genialer Traum.
Sie hatte ihn noch nicht begraben. Überhaupt nicht. Er wurde immer stärker. Sie wollte irgendwann hin, sich da einen Job suchen. Bedienen und mit Gästen umgehen konnte sie.
Aber Paris war teuer. Von ihrem Lohn konnte sie sich in dieser Stadt nicht mal eine Kammer leisten, die so groß war wie die ihre. Es war der reine Wahnsinn, wie hoch die Preise dort gestiegen waren. Also blieb ihr in der Zukunft nur eines.
Hier bleiben und auf den Prinzen warten, worüber sie allerdings nur lachen konnte.
Das Glas war fast leer, die Zigarette ausgedrückt. Auch die Musik spielte nicht mehr. Die CD war abgelaufen, und so umgab sie eine tiefe nächtliche Stille.
Marie schaute in ihr Glas hinein und auf die dunkelrote Oberfläche des Weines. Sie hatte ihn recht schnell getrunken. Er hatte ihr auch gut getan, und sie spürte, dass ihr Blut dabei in Wallung geraten war. Wieder musste sie an den Gast aus London denken. Schlief er? Schlief er nicht?
Sie spielte mit dem Gedanken, es auszuprobieren. Nach oben zu gehen, eine Flasche Cremant mitzunehmen. Zwei Gläser. Sich auf das Bett setzen und anschließend...
Jemand öffnete die Tür!
Fast brutal wurde sie aus ihren Gedanken gerissen und stieß einen Fluch aus. Sie ließ sich ungern stören, aber sie gab sich die Schuld, denn sie hatte die Gaststätte noch nicht abgeschlossen.
Den Mann, der das Lokal betrat, kannte sie nicht. Er trug einen dunklen Anzug und hatte sich einen ebenfalls dunklen Mantel über die Schultern geworfen.
Er stand da, schaute sich um, nickte zufrieden und sagte: »Sie haben noch geöffnet.«
Nein, wir haben geschlossen! Das hatte Marie sagen wollen, aber sie brachte es nicht fertig, denn dieser dunkelhaarige Gast strömte eine Aura aus, gegen die sie nicht ankam.
Er war da. Er stand auf der Stelle, und er beherrschte die Szene.
Marie schluckte. Über ihren Rücken rieselte ein Schauer. Im Magen verspürte sie ein Ziehen. Dieser Typ tat, als gehörte ihm alles. Mit sicheren Schritten ging er auf die Theke zu und blieb dort stehen.
»Ich wollte jetzt schließen.« Marie hatte sich endlich zu einer Antwort durchgerungen.
»Ach ja?«
»Ja, ich...«
»Jetzt bin ich hier.«
Marie sagte nichts mehr. Dieser Blick der fremden Augen bannte sie. Die junge Frau wusste nicht, wie sie ihn einschätzen sollte. Er war fordernd, sezierend und
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