Barbarendämmerung: Roman (German Edition)
Ebenfalls wie von etwas, das geboren wird oder geschlachtet.
Hunger trieb sie dazu, sich eine Scheibe Brot abzuschneiden. Sie aß hastig und ohne Genuss, wie auf dem Sprung. Den Schürhaken nie weiter als eine Handbreit entfernt. Sie begann sich vor dem Abend zu fürchten. Weil es dann auch draußen dunkel werden würde. Morgen, morgen würde ihr lieber Junge nicht kommen können. Das hatte er ihr schon gesagt. Er hatte gelächelt dabei, vielleicht war es ein Scherz gewesen, vielleicht wollte er sie überraschen. Sie musste aufpassen, dass sie ihn nicht mit ihrem Schürhaken erschlug, falls er es war, der sich an ihren Fenstern zu schaffen machte, um sie zu necken und anschließend sie Wütende lachend in die Arme zu schließen.
Sie schlief ein bei diesem Gedanken, der so wohltuend und heimelig war.
Sie schreckte auf. Da war nichts gewesen.
Sie schlief wieder ein.
Schreckte wieder hoch. Zeit war vergangen, ihre Glieder waren verspannt und schlecht durchblutet. Abermals musste sie an das Blut denken. Das Blut, das sich im Wasser mit den Spuren ihres Liebsten mischte. Flussabwärts würde man den Tod und das Leben trinken, wenn man aus dem Fluss schöpfte.
Sie mühte sich hoch. Fühlte sich alt. Wäre sie alt, müsste sie sich vor Fremden wahrscheinlich nicht mehr so fürchten. Oder doch. Nur anders. Nur um ihr Leben. Nicht um alles andere. Sie wusste nicht, was ihr lieber wäre.
Die Geräusche draußen hatten sich verändert, aber durch die Ritzen fiel immer noch Licht. Sie wollte nach draußen gehen, als wäre alles vor dem Schlafen nur ein Traum gewesen. Sie ging sogar schon auf die Tür zu. Erst als sie den Riegel mit den Fingerspitzen berührte, hielt sie inne.
Nein.
Ein Tag mehr oder weniger, was machte das schon? Lieber übervorsichtig sein und leben, als einer Laune zum Opfer fallen. Das oder etwas Ähnliches hatte auch ihr Vater ihr immer wieder eingeschärft, wenn die Eltern weggemusst hatten, auf den Markt.
Sie entzündete sich eine Kerze und begann in einem Buch zu lesen. Ein Handdruck, den ihr guter Junge ihr geschenkt hatte. Es waren Gedichte darin. Gedichte von Liebe und den Vergnügungen der Körper. Ihr guter Junge las ihr gerne daraus vor. Aber jetzt störten sie die Texte. Sie kamen ihr aberwitzig und anstößig vor. Sie klappte das Buch wieder zu.
Draußen ging jemand vorüber.
Sie sah, wie ein Schatten die Ritzen verdunkelte und dann weiterzog. Er ging offenbar ganz nah an der Hauswand entlang, so nah wie ein Hund, der schnuppert oder seine Markierungen setzt. Ihr Herz schlug plötzlich bis zum Hals, so heftig, dass ihr beinahe schwindelig wurde. Den Schürhaken hielt sie in beiden Händen und wartete darauf, dass die Tür nach innen brechen würde.
Doch nichts geschah. Der Schatten blieb verschwunden. Aber es war kein Reh gewesen. Zu groß für ein Reh. Viel, viel zu groß.
Sie setzte sich auf einen Stuhl. Ihr Herz beruhigte sich wieder. Die Vögel hatten die ganze Zeit nicht aufgehört zu zwitschern. Ein Schatten, der die Tiere nicht störte. Ein Mann aus den Wäldern, vertraut sowohl mit Geräuschen also auch mit Lautlosigkeit.
Sie döste wieder. Das schnelle Schlagen ihres Herzens machte sie müde. Liebe machte sie müde. Frische Luft half dagegen. Frische Luft und Licht. Ein Markttag nach einem leidenschaftlichen Morgen. Aber hier drinnen gab es keine Luft und kein Licht. Nur den Geruch von etwas Vergangenem, unerträglich Schönem, das nicht greifbar war und überhaupt keinen Halt mehr bot.
Plötzlich erzitterte das Haus. Sie schrak hoch, sprang regelrecht in die Höhe. Sie atmete nicht mehr. Ihr Herz schlug nicht mehr. Sie war hellwach.
Ein Ansturm oder ein Bewurf gegen die Hausecke links von der Eingangstür. Irgendetwas war dagegengesprungen oder dagegengeworfen worden. Alle ihre Ängste erwiesen sich als berechtigt. Aber wer sprang gegen eine Stelle, wo das Haus am allerstabilsten war, wo die Balken sich kreuzten und ineinanderfassten, um ein Fundament zu bilden?
Etwas raschelte, scharrte. Alles ging schnell. Dann schwere Schritte, schnell, oben auf dem Dach. Er war nicht dagegengesprungen, sondern hinauf.
»Bei den Göttern!«, schalt sie sich. Der Kamin! Die ganze Zeit über hatte sie den Schürhaken in der Hand, ohne sich Gedanken über den einzigen unverbarrikadierten Zugang gemacht zu haben!
Sie machte drei rasche Schritte auf den Kamin zu, doch der Mann auf dem Dach war schneller. Sie wollte ein Feuer entzünden, ein Feuer im Kamin, um ihm Flammen
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