Barins Dreieck
Hausfassaden, die in gleichgültiger Unveränderlichkeit dastanden. Ich dachte noch einmal an den Tag und dann vage über die unterschiedliche Dichte der Zeit nach ... wie doch gewisse, lang gezogene Zeitstrecken vollkommen unbemerkt an uns vorbeiziehen, bar jeder Bedeutung und jeden Ereignisses, bis wir plötzlich in Wirbel zusammengedrängter Begebenheiten geworfen werden. Reine Bedeutungsgitter, und wahrscheinlich verhält es sich so, dass Ereignisse neue Ereignisse nach sich ziehen, nach den gleichen Gesetzen, die auch für jede Art von Magnetismus gelten.
Auf jeden Fall ahnte ich, dass dieser Hohlraum und diese Anhäufung von verdichteter Zeit einen direkten Widerschein in der trostlosen Reise der Meteoriten und der Himmelskörper durch das Weltall haben mussten. Deren dunkle Verfügungen.
Und ebenso, wie gesagt, deren vagen Gedanken.
Es war am Morgen nach diesem Abend, als ich Beatrice draußen auf dem Balkon jammern hörte.
K err trug einen neuen Anzug, und aus der diskreten, aber tadellosen Qualität konnte man wohl die Hausse ablesen, die im Verlag herrschte. Er war mit der Morgenmaschine gekommen und wollte nicht über Nacht bleiben. Ein paar Stunden Besprechung nur – so hatte er das Ziel seines Besuchs am vorigen Abend am Telefon erklärt.
Wir saßen bei ten Bosch, einem der teuersten Gasthäuser der ganzen Stadt, und Kerr bestellte unbekümmert sowohl d’Yquem als auch Lafitte. Ich gab mir wirklich alle Mühe, den Kaviar und die warme Entenbrust zu würdigen, aber es war noch nicht einmal ein Uhr, und ich habe immer Probleme, so früh am Tag schon Appetit zu entwickeln.
Es drehte sich natürlich um das Buch. Nach einem rekordverdächtig schnellen Satz war es jetzt fertig für den Druck – er hatte eine Korrektur dabei, die ich jedoch nicht durchlesen musste, da sie bereits von anderen durchgegangen worden war, wie er mir erklärte. Alles in allem gab es nur eine Sache, die fehlte.
Der Titel.
Reins Manuskript war ohne Titel gewesen. Ich hatte das zu Beginn meiner Übersetzungsarbeit bemerkt, aber dem dann später nicht mehr besonders große Aufmerksamkeit gewidmet. Aus Erfahrung wusste ich, dass Rein oft wankelmütig war, was den Titel betraf. Häufig änderte er ihn zwei oder drei Mal, bevor er zufrieden war.
Aber jetzt verhielt es sich natürlich anders. Die Verlagsherren waren gezwungen, die Frage selbst zu entscheiden, und da ich derjenige war, der sich am intensivsten mit dem Text beschäftigt hatte, war man zu der Meinung gelangt, ich könnte vielleicht einen Vorschlag machen. Das war nicht mehr als recht und billig, wie Kerr sich großzügig ausdrückte.
Ich ließ den d’Yquem über die Zunge rollen.
»Rein«, sagte ich.
Kerr nickte aufmunternd.
»Es soll Rein heißen«, erklärte ich.
»Nur Rein?«
»Ja.«
Er überlegte eine Weile.
»Ja, das ist wohl richtig«, sagte er dann.
»Wie läuft es mit den Urheberrechten?«, fragte ich. »Den Royalties und so?«
»Das wird ein Problem«, gab er zu. »Aber wir haben ja seinen Brief, und unsere Anwälte haben sich das angeschaut. Wenn wir es herausgebracht haben, werden wir Kontakt zu seiner Witwe aufnehmen. Ich gehe jedoch davon aus, dass wir das Recht auf das Originalmanuskript beanspruchen können. Weißt du, wann die Verhandlung anfangen soll?«
»In der ersten Maiwoche.«
»Du wirst als Zeuge dabei sein?«
Ich nickte. Er wischte sich den Mund mit der schweren Leinenserviette ab. Zögerte einen Moment.
»Was denkst du?«
»Was meinst du?«
»Waren sie es? Ja, natürlich müssen sie es gewesen sein, aber wie haben sie reagiert?«
»Ich haben keinen von beiden getroffen.«
»Nein, natürlich nicht ... aber – werden sie gestehen oder alles abstreiten?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Keine Ahnung.«
»Du hast nicht ... irgendwas gehört?«
»Nein.«
»Hm. Mariam Kadhar ist eine attraktive Frau, oder?«
Ich erwiderte nichts.
»Ich habe sie natürlich nur ein paar Mal getroffen ... bei Walker und im letzten Jahr in Nizza, aber verdammt, man merkt doch gleich, dass sie ein Rasseweib ist.«
Kerrs Bildersprache war nun einmal so.
»Kann schon sein«, sagte ich.
Er zögerte wieder.
»Versteht du, wovon es handelt? Das Buch, meine ich. Es scheint mir etwas mysteriös zu sein ... aber das muss ja kein Nachteil sein.«
»Nicht alles muss leicht zugänglich sein.«
»Nein, zum Glück nicht. Worüber ich nachgedacht habe, ist die Frage, ob nicht noch weitere verborgene Botschaften darin verborgen sind
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