Bartimäus 01 - Das Amulett von Samarkand
aus. Ich setzte ihn im Schutz der betonierten Uferbefestigung ab und trocknete seine Kleider unter Zuhilfenahme einer diskreten Zauberflamme. Seltsamerweise hatte sich seine Laune längst nicht so gebessert wie sein Geruch, aber man kann schließlich nicht alles haben.
Als das erledigt war, gingen wir weiter und kamen gerade rechtzeitig am Bahnhof an, um den ersten Zug nach Süden zu erwischen. Ich klaute am Schalter zwei Fahrkarten, und während die Beamten noch die Bahnsteige nach einer freundlichen, rotbäckigen Pfarrersfrau absuchten, fuhr der Zug an, und ich machte es mir auf meinem Sitz bequem. Nathanael saß in einem anderen Abschnitt des Wagens, offenbar absichtlich, er schien wegen meiner improvisierten Säuberungsaktion immer noch sauer zu sein. Auf diese Weise war der erste Teil der Fahrt zugleich die friedlichste und angenehmste halbe Stunde, die ich seit meiner ersten Beschwörung durch den Jungen genoss. Der Zug rumpelte mit arthritischer Schwerfälligkeit durch Londons ausgedehnte Vororte, ein deprimierender, wild wuchernder Backsteindschungel, der an die Moräne eines gigantischen Gletschers erinnerte. Wir fuhren an baufälligen Fabrikgebäuden und zugemüllten Betonflächen vorbei, dahinter lagen Straßen mit spießigen Reihenhäusern, aus deren Schornsteinen hier und dort Rauch aufstieg. Einmal sah ich hoch oben am Himmel vor dem Dunstschleier, der die Sonne verhüllte, einen Trupp Dschinn westwärts fliegen. Sogar aus dieser Entfernung konnte ich ihre Brustpanzer funkeln sehen.
Nur wenige Leute stiegen ein oder aus. Ich lehnte mich zurück. Dschinn schlafen nicht, aber ich tat das Entsprechende, ließ in Gedanken die Jahrhunderte Revue passieren und hing erfreulichen Erinnerungen nach – an die peinlichen Irrtümer diverser Zauberer, an meine gelungensten Racheakte…
Irgendwann unterbrach der Junge meine Tagträume, indem er sich auf den Sitz mir gegenüber fallen ließ. »Wir müssen einen Plan machen«, sagte er mürrisch. »Wie können wir die Schutzvorrichtungen umgehen?«
»Bei den wandernden Kuppeln und den vielen Wächtern ist es ausgeschlossen, unbemerkt dort einzudringen«, erwiderte ich. »Wir brauchen so was wie ein Trojanisches Pferd.« Er sah mich fragend an. »Du weißt schon, irgendetwas Unverdächtiges, worin wir uns verstecken können und das die Wachposten auf das Gelände lassen. Was bringt man euch Zauberlehrlingen heutzutage eigentlich bei?« 87
( Klassische Geschichte offenbar nicht. Faquarl hätte sich bestimmt darüber aufgeregt, denn er prahlte gern damit, dass er Odysseus den Tipp mit dem hölzernen Pferd gegeben hätte. Ich bin überzeugt, dass er lügt, aber ich kann es leider nicht beweisen, denn ich war in Troja nicht dabei, weil ich mich damals gerade in Ägypten aufhielt. )
»Du meinst, wir müssen uns tarnen. Aha«, brummte er. »Hast du eine Idee?«
»Nö.«
Er ließ sich meinen Vorschlag mit finsterem Gesicht durch den Kopf gehen. Man konnte richtig hören, wie seine grauen Zellen rotierten. »Die Gäste kommen morgen«, dachte er laut. »Die müssen sie auf alle Fälle reinlassen, das heißt, es kommen wahrscheinlich den ganzen Tag Autos durch das Tor gefahren. Vielleicht können wir ja bei irgend-wem hinten aufspringen.«
»Vielleicht. Aber die Zauberer sind bestimmt alle bis an die Zähne mit Schutzschilden und aufmerksamen Kobolden ausgerüstet. Da müssten wir schon unverschämtes Glück haben, auch nur in die Nähe zu kommen, ohne dass man uns entdeckt.«
»Und das Personal?«, sagte er. »Das muss doch auch irgendwie reinkommen.«
Zugegeben – er hatte mitgedacht. »Die meisten sind wahrscheinlich schon dort«, sagte ich. »Aber du hast Recht. Der eine oder andere kommt vielleicht erst morgen. Außerdem wird das Essen bestimmt auch erst morgen geliefert, und vielleicht hat man ja auch Unterhaltungskünstler engagiert, Musiker oder Jongleure…«
»Jongleure?«, wiederholte er spöttisch.
»Wer hat hier mehr Erfahrung mit Zauberern – du oder ich? Bei solchen Veranstaltungen treten immer Jongleure auf. 88
(Zauberer haben einen unglaublich schlechten Geschmack, und zwar schon immer. Klar, in der Öffentlichkeit tun sie immer ganz sachlich und seriös, aber kaum sind sie unter sich, was machen sie? Lauschen sie etwa den Klängen eines klassischen Kammerorchesters? Von wegen! Sie amüsieren sich lieber über einen Zwerg auf Stelzen oder eine bärtige Dame, die einen Bauchtanz vorführt. Nur wenigen Eingeweihten ist bekannt, dass sich sogar der
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