Bartimäus 03 - Die Pforte des Magiers
Spontaneität war ihm fremd geworden. Jetzt, da er ein einziges Mal unüberlegt gehandelt hatte, konnte er seiner Arbeit plötzlich keinen Reiz mehr abgewinnen. Auch an diesem Morgen wurden irgendwo Schlachten geschlagen, herrschte Betriebsamkeit in den Ministerien, gab es viel zu tun. John Mandrake ließ das alles kalt, er fühlte sich lust-und antriebslos, die Anforderungen, die sein Ruf und sein Amt an ihn stellten, waren ihm auf einmal gleichgültig.
Ein Bild aus der vergangenen Nacht kam ihm wieder in den Sinn. Er sah vor seinem inneren Auge, wie er vor langer, langer Zeit mit seiner Lehrerin Miss Lutyens eine unbeschwerte Zeichenstunde im sommerlichen Garten verbracht hatte… Sie hatte neben ihm gesessen, hatte gelacht, ihr Haar hatte in der Sonne geglänzt. Das Bild flimmerte wie eine Fata Morgana, dann verschwand es. Das Zimmer war öd und kalt.
Nach geraumer Zeit verließ der Zauberer sein Arbeitszimmer. Der Türwächter wich in seinem runden Fleck aus geschwärztem Holz ängstlich zurück, als Mandrake an ihm vorbeiging.
Es war kein guter Tag. Im Informationsministerium erwartete ihn eine schroffe Mitteilung aus Miss Farrars Sekretariat. Sie hatte sich entschlossen, gegen ihn eine Dienstaufsichtsbeschwerde einzureichen, weil er durch seine Weigerung, den Dämon zu befragen, die polizeilichen Ermittlungen behindert hatte. Mandrake hatte kaum zu Ende gelesen, da erschien auch schon eine feierliche Abordnung aus dem Innenministerium und überbrachte ihm ein mit einem schwarzen Band verschlossenes Kuvert. Mr Collins hatte wegen eines ernsten Zwischenfalls am vergangenen Abend im St James’s Park ein paar Fragen an seinen Kollegen. Nach allem, was man darüber wusste, sah es für Mandrake schlecht aus: ein flüchtender Frosch, ein aus seinem Glaskäfig befreiter gemeingefährlicher Dämon, mehrere Tote unter den Besuchern. Aus diesem Vorfall hatte sich ein kleiner Aufstand entwickelt, die Gewöhnlichen hatten etliche Buden zu Kleinholz gemacht. Die Lage in der Innenstadt war immer noch gespannt. Mandrake sollte bei der zwei Tage darauf stattfindenden Kabinettssitzung ein Konzept für Gegenmaßnahmen vorlegen. Er erklärte sich sofort damit einverstanden. Ihm war klar, dass seine berufliche Laufbahn am seidenen Faden hing.
Bei den anschließenden Sitzungen erntete er von seinen Mitarbeitern teils belustigte, teils abfällige Blicke. Der eine oder andere ging sogar so weit, ihm vorzuschlagen, seinen Dschinn unverzüglich zu beschwören, um den politischen Schaden zu begrenzen. Mandrake weigerte sich beharrlich. Den ganzen Tag war er gereizt und unkonzentriert. Sogar Miss Piper machte einen großen Bogen um ihn.
Als Mr Makepeace am späten Nachmittag durchrief, um an ihre Verabredung zu erinnern, hatte Mandrake endgültig genug und ging.
Seit etlichen Jahren, seit der Geschichte mit Gladstones Stab, war Mandrake mit dem Bühnenautor Quentin Makepeace eng befreundet. Dafür hatte er gute Gründe, nicht zuletzt war der Premierminister ein begeisterter Theatergänger und folglich hatte Mr Makepeace großen Einfluss auf ihn. Indem er vorgab, die Leidenschaft des Premierministers zu teilen, pflegte Mandrake inzwischen so vertrauten Umgang mit Devereaux, dass ihn die anderen, weniger anpassungsfähigen Minister nur beneiden konnten. Doch das hatte seinen Preis. Nicht nur einmal hatte sich Mandrake geradezu genötigt gefühlt, an einer von Makepeace’ schauderhaften Amateuraufführungen in Richmond mitzuwirken, in Trikotstrumpfhosen oder Pluderhöschen über die Bühne zu tänzeln, und einmal hatte man ihn sogar (beim Gedanken daran schüttelte er sich heute noch), mit schillernden Gazeflügeln angetan, in einem Gurt von der Decke heruntergelassen. Die Witzeleien seiner Kollegen hatte er stoisch ertragen, Devereaux’ Wohlwollen war ihm wichtiger.
Im Gegenzug hatte ihm Quentin Makepeace wiederholt seine Hilfe angeboten, und Mandrake hatte ihn als verblüffend scharfsinnigen Zeitgenossen kennen gelernt, als jemanden, der jedes Gerücht aufschnappte und die Launen des Premierministers verblüffend gut einschätzen konnte. Er hatte schon oft von den Ratschlägen des Theatermannes profitiert.
In letzter Zeit jedoch, als ihn seine Arbeit immer mehr in Anspruch genommen hatte, war Mandrake seiner überdrüssig geworden. Ihn reute die Zeit, die er damit zubrachte, sich bei Devereaux einzuschmeicheln. Er hatte keinen Nerv mehr für solche Banalitäten. Schon seit Wochen war er nicht mehr auf Makepeace’ Einladungen
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