Bastard
Entweder landeten sie auf einem geheimen Schrottplatz oder wurden wegen der Ersatzteile ausgeschlachtet«, erklärt Lucy. »Und trotzdem hat der Typ in deiner Kühlkammer einen in seiner Wohnung stehen. Wo hat er ihn her? Er muss Beziehungen haben. Auf seinem Couchtisch liegt Zeichenpapier. Vermutlich ist er Ingenieur oder etwas in dieser Richtung und an streng vertraulichen Projekten beteiligt, die eine hohe Geheimhaltungsstufe erfordern. Aber er ist Zivilist.«
»Was macht dich so sicher, dass er Zivilist ist?«
»Glaub mir, da würde ich jeden Eid drauf schwören. Er hat keine militärische Ausbildung und arbeitet eindeutig nicht beim militärischen Geheimdienst oder bei der Regierung. In diesem Fall würde er nämlich beim Spazierengehen nicht laute Musik hören und eine teure Pistole mit entfernter Seriennummer mit sich herumschleppen, was heißt, dass er sie vermutlich auf der Straße gekauft hat. Er hätte eine, die man nicht zu ihm zurückverfolgen kann. Eine, die man einmal benutzt und dann wegwirft …«
»Wir wissen nicht, zu wem sich die Pistole zurückverfolgen lässt«, betone ich.
»Soweit ich im Bilde bin, noch nicht, was ein Witz ist. Der Typ ist kein verdeckter Ermittler. Niemals. Ich glaube, er hat Angst«, verkündet Lucy, als handelte es sich um eine Tatsache. » Hatte. Jemand hat ihn überwacht, und nun ist er tot. Meiner Meinung nach ist das kein Zufall. Ich würde dir raten, extrem vorsichtig zu sein, wenn du mit Marino sprichst.«
»Manchmal ist er ein schrecklicher Trampel, aber er versucht nicht, mir zu schaden.«
»Sein Verständnis von Geheimhaltung beschränkt sich darauf, seine Fälle nicht mit seinen Kumpels beim Bowling zu erörtern und nicht mit Reportern zu sprechen. Sich Leuten wie Briggs anzuvertrauen, findet er hingegen völlig in Ordnung, weil er vor hohen Militärs viel zu viel Respekt hat.« Lucy ist so ernst, wie ich sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt habe. »Er hätte sich an mich oder an Benton wenden müssen.«
»Hast du Benton dasselbe erzählt wie mir?«
»Ich überlasse es dir, ihm MORT zu erklären, weil er nicht verstehen wird, was das Problem ist. Er war nicht dabei, als du dich mit dem Pentagon herumgestritten hast. Du erläuterst ihm alles, und dann setzen wir uns alle zusammen und unterhalten uns. Das heißt, du, er und ich. Mehr Leute sollten im Moment nicht eingeweiht werden, weil du noch nicht weißt, wer wo steht. Zuerst musst du die verdammten Fakten klarkriegen und Freund und Feind unterscheiden können.«
»Wenn ich Marino in einem Fall wie diesem oder überhaupt einem Fall nicht vertrauen kann, wozu beschäftige ich ihn dann überhaupt?« Mein Tonfall ist scharf und gereizt, denn Marino einzustellen war ebenso Lucys Idee wie meine.
Sie hat mir zugeredet, ihm die Stelle als oberster Ermittler am CFC anzubieten, und ihn überzeugt, sie anzunehmen. Allerdings hat er sich nicht lange bitten lassen. Obwohl er es
niemals zugeben würde, weicht er nur sehr ungern von meiner Seite, und als ihm klarwurde, dass ich nach Cambridge übersiedeln würde, hatte die New Yorker Polizei plötzlich ihren Reiz für ihn verloren. Er hatte kein Interesse mehr an Jaime Berger, der Staatsanwältin, deren Büro er zugeteilt war. Er geriet in einen erbitterten Streit mit seinem Vermieter in der Bronx. Er begann sich über die Steuern in New York zu beklagen, obwohl er sie bis dahin jahrelang klaglos gezahlt hatte. Er beschwerte sich, es sei eine Zumutung, nirgendwo Motorrad fahren oder einen Pick-up parken zu können, auch wenn er damals keines von beiden besaß. Er fand, es sei Zeit für einen Umzug.
»Es geht nicht um Vertrauen, sondern darum, seine eigenen Grenzen zu erkennen.« Es ist untypisch für Lucy, so viel Nachsicht zu zeigen. Für gewöhnlich tut sie ihre Mitmenschen einfach als böswillig oder unfähig ab und findet, dass sie die Strafe verdient haben, die sie über sie verhängt.
Nun schiebt sie den Hubkrafthebel leicht nach oben und justiert vorsichtig die Blattverstellung, damit wir schneller werden und um zu verhindern, dass wir zu weit steigen und in die Wolken geraten. Rings um uns herrscht stockfinstere Nacht. Streckenweise kann ich keine Lichter am Boden erkennen, ein Hinweis darauf, dass wir über Bäumen fliegen. Ich gebe die Frequenz von McGuire ein, damit wir den dortigen Luftraum überwachen und gleichzeitig das Traffic Collision Avoidance System im Auge behalten können, das der Vermeidung von Zusammenstößen in der Luft dient.
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