Bastard
in Manhattan sein muss, eine Beziehung mit jemandem wie Lucy zu führen. Die Liebe besiegt nicht alles. Das stimmt tatsächlich. Vielleicht hat Lucys Verfolgungswahn, was den 11. September und das Land, in dem wir leben, angeht, sie wieder zurück in die für sie typische Isolation getrieben, die bei ihr nie lange durchbrochen wird. Ich dachte wirklich, dass Jaime die Richtige wäre und dass die Beziehung von Dauer sein könnte. Inzwischen bin ich überzeugt, dass das nicht der Fall ist. Ich möchte Lucy sagen, wie leid mir das für sie tut, dass ich immer für sie da bin und dass ich über alles mit ihr reden werde, was sie bedrückt, selbst wenn es gegen meine Grundsätze verstößt. Doch jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt.
»Ich glaube, wir müssen die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass wir es vielleicht mit einem abtrünnigen Wissenschaftler oder gar mehreren zu tun haben, die nichts Gutes im Schilde führen«, meint Lucy zu mir. »Das ist es, was ich dir klarmachen will. Und das wäre eine wirklich üble Sache, Tante Kay.«
Es erleichtert mich, dass sie mich Tante Kay nennt. Wenn sie das tut, was mittlerweile nur noch selten geschieht, habe ich das Gefühl, dass zwischen uns alles in Ordnung ist. Als Tante Kay gelingt es mir beinahe, zu vergessen, wer Lucy Farinelli ist, ein Genie mit leichten soziopathischen Anwandlungen. Benton hat für diese Diagnose nur Spott übrig, höflichen zwar, aber auch nachdrücklichen. Leicht soziopathisch sei wie ein bisschen schwanger oder ein bisschen tot, lauten seine Worte. Obwohl ich meine Nichte mehr liebe als mein eigenes Leben, habe ich mich inzwischen damit abgefunden, dass es bei ihr eine bewusste Entscheidung ist oder ihr einfach nur gerade in den Kram passt, wenn sie sich gut benimmt. Moralische Erwägungen sind nebensächlich. Der Zweck heiligt für sie in jedem Fall die Mittel.
Ich mustere sie forschend, auch wenn mich das nicht weiterbringt. Ihr Gesicht verrät niemals etwas, das ihr wirklich schaden könnte.
»Ich muss dir eine Frage stellen«, beginne ich.
»Es kann auch mehr als eine sein.« Als sie lächelt, wirkt sie, als könnte sie keiner Fliege etwas zuleide tun, solange man nicht darauf achtet, wie kräftig und beweglich ihre jetzt ruhigen Hände sind, und auch nicht auf die blitzartigen Veränderungen in ihren Augen, während die Gedanken rasend schnell hinter ihnen vorbeihuschen.
»Du hast mit der ganzen Sache nichts zu tun.« Damit meine ich die kleine weiße Schachtel mit dem Flügel des Flybot darin. Und den Toten, der gerade im McLean ins MRI geschoben
wird – einen Menschen, mit dem sich vielleicht unsere Wege in einer Leonardo-da-Vinci-Ausstellung in London gekreuzt haben, und zwar einige Monate vor dem 11. September, den Lucy wider alle Vernunft für ein Komplott unserer eigenen Regierung hält.
»Nein.« Das sagt sie ganz gelassen, ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur einen Hauch von Verlegenheit.
»Denn jetzt bist du hier.« Damit will ich sie daran erinnern, dass sie jetzt für das CFC, das heißt für mich, arbeitet und ich dem Gouverneur von Massachusetts, dem Verteidigungsministerium, dem Weißen Haus und einer ganzen Menge anderer Leute rechenschaftspflichtig bin. »Ich kann es mir nicht leisten …«
»Natürlich nicht. Ich werde dich nicht in Schwierigkeiten bringen.«
»Es geht nicht mehr nur um dich …«
»Dieses Gespräch ist überflüssig«, unterbricht sie mich wieder, und ihre Augen funkeln. Sie sind so grün, dass die Farbe künstlich wirkt. »Wie dem auch sei, er hat keine thermischen Verletzungen, oder? Keine Verbrennungen?«
»Keine, die mir bis jetzt aufgefallen wären«, erwidere ich.
»Gut. Was, wenn ihn jemand mit einer umgebauten Harpune erstochen hat? Du weißt schon, eines dieser speerförmigen Dinger, an deren Spitze eine Art Geschosshülse angebracht ist. Nur dass es sich in diesem Fall um ein winziges Geschoss handelt, das einen Nanosprengstoff enthält.«
Ich schalte den Computer auf meinem Schreibtisch an. »Das würde anders aussehen, nämlich wie ein aufgesetzter Schuss abzüglich der Abschürfung, deren Muster der Pistolenmündung entspricht. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass jemand Nanosprengstoff anstelle eines Geschosses an der Spitze des Speers oder speerähnlichen Gegenstands befestigt hat, könnte man, und da hast du ganz recht, eine thermische
Verletzung feststellen. Die Eintrittswunde und auch das darunterliegende Gewebe würden Verbrennungen aufweisen. Möchtest du
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