Baudolino - Eco, U: Baudolino
Abbild von Unserem Herrn Jesus Christus herstellen sollen. Also was?«
»Ich habe die Sydoines nicht«, sagte der Poet. »Aber du.«
»Ich?«
»Weißt du noch, wie ich dich gefragt habe, was in dieser Schatulle war, die dir die beiden Getreuen des Diakons vor unserer Flucht aus Pndapetzim übergaben? Du hast mir gesagt, da sei das Abbild dieses Unglücklichen drin, eingedrückt in sein Leichentuch, kurz nachdem er gestorben war. Zeig es mir.«
»Du bist verrückt, das ist ein heiliges Vermächtnis, der Diakon hat es mir anvertraut, damit ich es dem Priester Johannes bringe.«
»Baudolino, du bist über sechzig und glaubst immer noch an den Priester Johannes? Wir haben es doch mit Händen gegriffen, dass es ihn nicht gibt! Zeig mir dieses Tuch.«
Widerwillig holte Baudolino die Schatulle aus seinem Reisesack, entnahm ihr eine Stoffrolle und brachte, als er sie entrollte, ein großes Leintuch zum Vorschein. Es war so groß, dass er die anderen bitten musste, Tische und Schemel beiseite zu rücken, denn er brauchte viel Platz, um es ganz auf dem Boden auszubreiten.
Es war ein ungewöhnlich großes Bettlaken, auf dem eine menschliche Gestalt in doppelter Ausführung zu sehenwar, als hätte der darin eingehüllte Leib seinen Abdruck zweimal hinterlassen, einmal von vorn und einmal von hinten. Man erkannte sehr gut ein Gesicht, das lange, auf die Schultern fallende Haar, den Bart, die geschlossenen Augen. Von der Gnade des Todes berührt, hatte der unglückliche Diakon auf diesem Tuch das Bildnis heiterer Züge und eines gesunden Leibes hinterlassen, in dem man nur mit Mühe undeutliche Zeichen von Verletzungen, Flecken oder Wunden erkannte, die Spuren der Lepra, die ihn zerstört hatte.
Baudolino betrachtete es bewegt und musste zugeben, dass der Verstorbene auf diesem Leinen die Stigmata seiner leiderfüllten Majestät zurückerworben hatte. Dann sagte er: »Wir können doch nicht das Abbild eines Leprakranken, noch dazu eines Nestorianers, als das Unseres Herrn verkaufen!«
»Erstens weiß der Herzog von Athen das nicht«, entgegnete der Poet, »und ihm müssen wir es ja andrehen, nicht dir. Und zweitens verkaufen wir es nicht, sondern wir tauschen es. Und folglich ist es keine simonistische Schacherei. Ich gehe zu diesem Syrer.«
»Der Syrer wird dich fragen, warum du es tauschen willst, wo doch eine Sydoines unvergleichlich viel kostbarer ist als ein Mandylion«, sagte Baudolino.
»Weil es schwieriger ist, sie heimlich aus Konstantinopel hinauszuschaffen. Weil sie wertvoller ist und nur ein König sich erlauben könnte, sie zu erwerben, während wir für das Antlitz weniger hochmögende Interessenten finden können, die aber bar auf die Hand zahlen. Weil, wenn wir die Sydoines einem christlichen Fürsten anböten, er behaupten könnte, wir hätten sie hier gestohlen, und uns aufknüpfen lassen würde, während das Antlitz von Edessa immer auch das von Camulia, von Memphis oder von Anablatha sein könnte. Der Syrer wird meine Argumente verstehen, wir sind vom gleichen Schlag.«
»Na gut«, sagte Baudolino, »du lässt dieses Tuch dem Herzog von Athen zukommen, und es ist mir egal, ob er ein Bildnis erwirbt, das nicht das von Christus ist. Aber du weißt, dass dieses Bildnis für mich kostbarer ist als das vonChristus, du weißt, woran es mich erinnert, und du kannst nicht Schacher treiben mit einem so verehrungswürdigen Erinnerungsstück ...«
»Baudolino«, sagte der Poet, »wir wissen nicht, was wir vorfinden werden, wenn wir nach Hause kommen. Mit dem Antlitz von Edessa können wir einen Bischof auf unsere Seite ziehen, und unser Glück ist von neuem gemacht. Und außerdem, Baudolino, wenn du dieses Laken nicht aus Pndapetzim mitgenommen hättest, würden es jetzt die Hunnen benutzen, um sich den Hintern damit abzuwischen. Dieser Mann ist dir lieb und teuer gewesen, du hast mir seine Geschichte erzählt, als wir durch die Wüsten irrten und als wir in Gefangenschaft waren, und du hast seinen Tod beweint, der sinnlos war und an den kein Grabmal erinnert. Nun denn, sein letztes Abbild wird irgendwo als das Abbild Christi verehrt werden. Was für ein erhabeneres Grabmal kannst du dir wünschen für einen, den du geliebt hast? Wir erniedrigen dein Erinnerungsstück nicht, im Gegenteil, wir ... wie könnte man sagen, Boron?«
»Wir verklären es.«
»Genau.«
»Vielleicht hatte ich in den Wirren jener Tage den Sinn für richtig und falsch verloren, Kyrios Niketas, vielleicht war ich auch bloß müde.
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