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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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nestorianus zu sein. Wären demnach diese Nestorianer nur irgendwie halbe Christen und keine richtigen?
    »Nun, mein Sohn, um die volle Wahrheit zu sagen, Nestorius war ein Ketzer, aber wir haben ihm viel zu verdanken. Du musst wissen, in Indien waren es die Nestorianer, die dort, nach dem Apostel Thomas, das Christentum verbreiteten, und zwar bis an die Grenzen jener fernen Länder, aus denen die Seide kommt. Nestorius hat nur einen allerdings schweren Fehler begangen, im Hinblick auf unseren Herrn Jesus Christus und seine allerheiligste Mutter. Wie du weißt, glauben wir fest an die Existenz einer einzigen göttlichen Natur, die gleichwohl aus drei verschiedenen Personen besteht: die Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Aber wir glauben ebenfalls, dass in Christus nur eine einzige Person war, eben die göttliche, die aber zwei Naturen hatte, eine menschliche und eine göttliche. Nestorius hingegen vertrat die Ansicht, dass in Christus nicht nur zwei Naturen existiert hätten, eine menschliche und eine göttliche, sondern auch zwei Personen. Infolgedessen habe Maria nur die menschliche Person geboren, weshalb man sie nicht Mutter Gottes nennen könne, sondern nur Mutter des Menschen Christus – nicht Theotókos , Gottesgebärerin, sondern höchstens Christotókos .«
    »Ist es schlimm, so zu denken?«
    »Es ist schlimm, und es ist nicht schlimm«, erregte sich Otto. »Du kannst die Heilige Jungfrau genauso gut lieben, auch wenn du so über sie denkst wie Nestorius, aber du tust ihr damit weniger Ehre an. Außerdem ist eine Person die individuelle Substanz eines animal rationale , eines Vernunftwesens, und wenn in Christus zwei Personen existierten, waren das dann zwei individuelle Substanzen von zwei Vernunftwesen? Wohin führt solches Denken? Will man vielleicht sagen, Christus habe mal so und mal so argumentiert? Das soll nun freilich nicht heißen, dass der Presbyter Johannes ein gefährlicher Ketzer wäre, aber es wird gut sein, wenn er in Kontakt mit einem christlichen Herrschertritt, der ihm den wahren Glauben nahebringt, denn da er gewiss ein ehrlicher Mann ist, wird er dann nicht umhinkönnen, sich zu bekehren. Sicher ist allerdings, dass du diese Dinge nie begreifen wirst, wenn du dich nicht daranmachst, ein bisschen Theologie zu studieren. Du bist ein heller Junge, Rahewin ist ein guter Lehrer, solange es um Lesen, Schreiben, ein bisschen Rechnen und ein paar Grammatikregeln geht, aber Trivius und Quadrivius sind etwas ganz anderes. Um zur Theologie zu gelangen, müsstest du Dialektik studieren, und das sind Dinge, die du nicht hier in Morimond lernen kannst. Du musst an ein richtiges Studium gehen, an eine Schule, wie es sie nur in großen Städten gibt.«
    »Aber ich will an kein Studium gehen, von dem ich ja nicht mal weiß, was das ist.«
    »Wenn du es erst mal begriffen hast, wirst du sehr gern hingehen, mein Sohn. Schau, es heißt allgemein, dass die menschliche Gesellschaft auf drei Kräften beruht, auf den Kriegern, den Mönchen und den Bauern, und vielleicht ist das bis gestern auch so gewesen. Aber wir leben in einer neuen Zeit, in der die Gelehrten ebenso wichtig zu werden beginnen, die, auch ohne Mönche zu sein, das Recht studieren, die Philosophie, die Bewegungen der Himmelskörper und vielerlei andere Dinge, wobei sie weder ihrem Bischof noch ihrem König ständig über alles Rechenschaft ablegen müssen. Und diese Studia , die jetzt langsam in Bologna oder Paris entstehen, sind Orte, wo das Wissen gepflegt und weitergegeben wird, und Wissen ist eine Form von Macht. Ich war ein Schüler des großen Abaelard, dem Gott gnädig sein möge, denn er hat viel gesündigt, aber er hat auch viel gelitten und gebüßt. Nach seinem Unglück, als er in einem wütenden Akt der Rache entmannt worden war, ist er Mönch und Abt geworden und hat fern der Welt gelebt. Aber auf der Höhe seines Ruhms war er Magister in Paris, verehrt von seinen Studenten und geachtet von den Mächtigen, eben wegen seines Wissens.«
    Baudolino sagte sich, dass er seinen Lehrer Otto niemals verlassen würde, von dem er weiterhin vieles lernte. Doch ehe die Bäume das vierte Mal blühten, seit er ihn kannte,lag Bischof Otto im Sterben, entkräftet von Sumpffieber, Gliederschmerzen, Blutandrang in der Brust und seinem alten Blasensteinleiden. Zahlreiche Ärzte, darunter auch einige Araber und Juden, also die besten, die ein christlicher Kaiser einem Bischof anbieten konnte, hatten seinen geschwächten Körper mit

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