Baudolino - Eco, U: Baudolino
enthüllen, ohne dass ihm jemand deswegen eine Moralpredigt halten konnte, waren sie doch bis vor kurzem selbst noch Kaiserliche gewesen, dass er ein Ministeriale Friedrichs war und sich ihm auch durch Sohnesliebe verbunden fühlte – und so erzählte er ihnen kurz entschlossen die ganze Geschichte dieser wunderbaren dreizehn Jahre, wozu Gagliaudo nur wiederholt brummeln konnte: »Wer hätte das gedacht!«, »Wenn mir das einer erzählt hätte, ich hätt's nicht geglaubt!« und: »Da schau her, ich hab dich für einen noch größeren Nichtsnutz als die anderen gehalten, und jetzt bist du wirklich jemand geworden!«
»Nicht alle Übel sind schädlich«, sagte daraufhin der Boidi. »Alexandria ist noch nicht fertig, und schon haben wir einen von uns am Hofe des Kaisers. Lieber Baudolino, du darfst deinen Kaiser nicht verraten, wo du ihn doch so gern hast und er dich auch. Bleib bei ihm, aber vertritt unsere Sache vor ihm, wann immer es nötig ist. Es handelt sich um deine Heimat, also wird dir niemand übelnehmen, wenn du sie verteidigst – in den Grenzen der Loyalität, versteht sich.«
»Aber heute Abend gehst du besser deine liebe und fromme Frau Mutter besuchen und schläfst in der Frascheta«, sagte Oberto zartfühlend, »und morgen gehst dufort, ohne hier noch mal herzukommen und nachzusehen, wie die Straßen verlaufen und wie fest die Mauern sind. Wir sind sicher, wenn du eines Tages erfahren würdest, dass wir in einer großen Gefahr schweben, würdest du uns aus Liebe zu deinem leiblichen Vater eine Warnung zukommen lassen. Aber wenn du dazu den Mut hast, wer weiß, ob du nicht aus den gleichen Gründen auch deinen Adoptivvater vor irgendeiner Maßnahme unsererseits warnen würdest, die für ihn allzu schmerzlich sein könnte. Daher ist es besser, du weißt möglichst wenig.«
»Ja, mein Sohn«, sagte nun auch Gagliaudo, »tu wenigstens einmal was Gutes nach all dem Ärger, den du mir gemacht hast. Ich muss hierbleiben, denn wie du siehst, sprechen wir hier über wichtige Dinge, aber lass deine Mutter nicht ausgerechnet in dieser Nacht allein. Ich sage dir, wenn sie dich sieht, wird sie vor lauter Glück überhaupt nichts begreifen und gar nicht merken, dasss ich nicht da bin. Geh, und gib acht, was ich dir sage: Ich erteile dir auch meinen Segen, denn wer weiß, wann wir uns wiedersehen werden.«
»Na großartig!« sagte Baudolino. »An einem einzigen Tag finde ich eine Stadt und verliere sie wieder. O porca miseria , macht euch das klar: Wenn ich meinen Vater wiedersehen will, werde ich zu seiner Belagerung kommen müssen!«
Was dann, erklärte Baudolino seinem Zuhörer, auch mehr oder weniger so geschah. Aber es gab keine Möglichkeit, auf andere Weise aus der Sache herauszukommen, ein Zeichen dafür, dass es wirklich schwierige Zeiten waren.
»Und dann?« fragte Niketas.
»Dann machte ich mich auf die Suche nach unserem Haus. Der Schnee am Boden lag schon kniehoch, die weiße Fracht von oben war ein dichtes Flockengewimmel, das einem vor den Augen tanzte und die Sicht nahm, die Feuer der Civitas Nova waren verschwunden, und zwischen all dem Weiß unten und dem Weiß oben wusste ich nicht mehr, in welche Richtung ich gehen sollte. Ich glaubte mich an die alten Pfade zu erinnern, aber was hieß hier noch Pfade, man konnte ja nicht einmal mehr erkennen, wasfester Boden und was Sumpf war. Offensichtlich hatten sie zum Bau ihrer Häuser ganze Wäldchen abgeholzt, ich fand keine Spur mehr von jenen Bäumen, die ich als Kind im Schlaf wiedererkannt hätte. Ich hatte mich verirrt, wie damals Friedrich in jener Nacht, als ich ihm das erste Mal begegnet war, nur herrschte diesmal kein Nebel, sondern Schneetreiben, denn wäre es Nebel gewesen, hätte ich mich noch zurechtgefunden. Feine Sache, Baudolino, sagte ich mir, du verirrst dich in deiner eigenen Heimat! Meine Mamma hatte schon recht, die Leute, die lesen und schreiben können, sind dümmer als die anderen. Was mache ich jetzt, bleibe ich hier und verspeise mein Maultier, und morgen früh, wenn sie tief genug graben, finden sie mich steif wie ein Kaninchenfell, das eine Nacht lang draußen gelegen hat in den frostigsten Wintertagen?«
Dass Baudolino da war und sein Abenteuer erzählte, beweist, dass er es überstanden hatte, aber nur dank einer Begebenheit, die fast an ein Wunder grenzte. Denn während er ziellos weitergeritten war, hatte er ein weiteres Mal einen Stern am Himmel entdeckt, schwach leuchtend nur, aber erkennbar, und war ihm
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