Bauernjagd
Identität ist zwar noch nicht geklärt«, sagte der Dienststellenleiter,
»aber die Kollegen haben einen verwaisten Pkw am Feldweg entdeckt, an der
Stelle, wo der Unbekannte aufs Gleis getreten ist.«
»Lass mich raten. Der Pkw ist auf den Ehemann unseres Mordopfers
zugelassen.«
»So ist es.«
Ein Suizid war zwar fast so etwas wie ein Geständnis. Es bedeutete
aber, dass sie kein echtes Geständnis mehr von dem Ehemann der Toten bekommen
würden. Sie würden seine Schuld anhand der Tatortspuren beweisen müssen. Der
Tathergang musste genau rekonstruiert, jeder noch so kleine Zweifel ausgeräumt
werden.
Ein Geständnis wäre weniger Arbeit gewesen.
»Also gut«, sagte Hambrock. »Dann legen wir mal los. Je eher wir
anfangen, desto schneller sind wir fertig.«
Am nächsten Abend fuhr er hinaus nach Erlenbrook-Kapelle.
Die Sache mit dem Selbstmörder steckte ihm noch immer in den Knochen. Am
Ereignisort war es viel schlimmer gewesen, als er erwartet hatte, die Bilder
hatten sich tief in sein Bewusstsein gebrannt. Zerfetzte Körperteile entlang
der Gleise, Blut an der Lok, irgendwo ein halber Arm, ein Schuh, eine kaputte
Brille. Es war ein grauenhafter Anblick gewesen, und er hatte die Kollegen
bedauert, die abkommandiert waren, die Leichenteile einzusammeln.
Er schaltete das Radio ein und suchte nach einem ruhigen Popsong,
dann begann er am Navigationsgerät herumzufummeln. Erlend traf sich an diesem
Abend mit Kollegen aus der Universität. Gegen neun wollte sie wieder zu Hause
sein, und länger würde sein Ausflug auch nicht dauern.
»Ist doch egal«, hatte sie am Telefon gesagt. »Ab nächsten Mittwoch
haben wir genügend Zeit füreinander, dann holen wir das alles nach.«
Hambrock hatte es noch nicht übers Herz gebracht, ihr zu sagen, dass
der Urlaub ausfallen würde. Dabei drängte die Zeit, Erlend steckte schon mitten
in den Vorbereitungen. Aber er hatte Angst vor ihrer Reaktion und vor der
schlechten Stimmung, die ohne Zweifel danach herrschen würde. Heute Abend,
ermahnte er sich, wirst du es ihr sagen. Dann gibt es keine Ausflüchte mehr.
Erlenbrook-Kapelle lag eine halbe Autostunde von Münster entfernt.
Als er die Bundesstraße verließ und weiter über die Dörfer fuhr, war er dankbar
für das Navigationsgerät. Ohne hätte er den Weg zu seinen Verwandten vermutlich
nicht gefunden. Es war einfach zu lange her, dass er das letzte Mal dort
gewesen war.
Die Erinnerung kam erst, als er den Hof von Weitem erblickte. Da
fühlte er sich, als mache er eine Zeitreise. Er sah alles wieder vor sich: das
überheizte Wohnzimmer von Emma Horstkemper, die Erwachsenen, die dicht gedrängt
an einem Tisch voller klebrigsüßer Torten saßen, die hässlichen Tapeten und die
schweren Vorhänge. In der Luft lag Kaffeedunst, es roch nach Schweiß und
Schnaps und Kölnisch Wasser, und hinterm Tisch war eine Ecke mit fadem
Spielzeug, in der er gelangweilt darauf wartete, dass seine Eltern endlich
wieder nach Hause fuhren. Und jedes Mal beugte sich am Schluss Großtante Emma
aus ihrem Rollstuhl und umarmte ihn mit stählernem Griff, wobei er jeden ihrer
spitzen Knochen zu spüren glaubte.
Als er nun mit seinem Dienstwagen auf den Hof fuhr, flammte eine
Außenbeleuchtung auf. Er blickte sich um. Das Wohnhaus wirkte heller als in
seiner Erinnerung, heller und freundlicher. Es war umgebaut worden, die Fenster
hatte man vergrößert und das Dach mit hellroten Ziegeln gedeckt.
Die Haustür aus beschlagenem Eichenholz öffnete sich, und eine große
hagere Frau erschien. Sie hatte eine auffällig gerade Körperhaltung und
strahlte Strenge und Autorität aus. Ohne Zweifel war das Tante Ada.
Er stieg aus und schloss den Wagen ab.
»Bernhard, bist du das?« Sie ging ihm entgegen. »Du lieber Himmel,
ich hätte dich niemals wiedererkannt.«
Ihm erging es nicht anders, die Frau war wie eine Fremde. Er
erinnerte sich, dass Großtante Emma drei erwachsene Töchter hatte, doch welche
von ihnen Ada gewesen war, daran konnte er sich nicht erinnern. Wie alt mochte
sie nun sein? Er schätzte sie auf Anfang bis Mitte sechzig. Sie schüttelten
sich förmlich die Hand.
»Das letzte Mal habe ich dich gesehen, da warst du zwölf Jahre alt«,
sagte sie. »Und jetzt bist du wie alt?«
»Dreiundvierzig.«
»Na, daran sieht man, wie die Zeit vergeht.«
Sie betrachtete ihn von oben bis unten, und Hambrock entging nicht,
dass ihr Blick an seinem Bauch hängen blieb. Er war wahrscheinlich das, was
sich am augenscheinlichsten an ihm
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