Bauernopfer: Lichthaus' zweiter Fall (German Edition)
Görgen ist laut seiner Schwester sehr gläubig. Sie lebt in North Carolina, also mitten drin, und er war dort zu Besuch.«
»Aha. Die Evangelikalen richten sich wie gesagt an der Bibel aus. Diese Gruppen glauben an eine persönliche Beziehung zu Gott und machen diese zur Grundlage ihres Christentums. Zentral ist eine individuelle Erweckungs- und Bekehrungserfahrung. Stellen wir uns den Täter als jemanden vor, der nach seiner Erweckung nun für seine schlimmen Erfahrungen Rache nimmt und glaubt, dabei im Auftrag Gottes zu handeln, dann fügen sich einige unserer Fakten zusammen. Görgen würde passen. Einschneidende Erlebnisse und anhaltende Probleme. Psychisch labil, religiös und, wie du heute erlebt hast, auch gewalttätig.«
»Ja, er ist verdächtig, doch das geht mir zu schnell. Nur weil er in North Carolina im Gottesdienst war, können wir nicht so absolute Schlussfolgerungen ziehen. Wir müssen das prüfen. Nehmen wir losgelöst von Görgen einmal an, es gibt einen Zusammenhang zu solchen fundamentalistischen Gruppen, dann stellt sich aber doch die Frage, warum einer ihrer Mitglieder sich als Rächer Gottes aufführen sollte. Ich nehme nicht an, dass diese Gemeinden einer Untersuchung positiv gegenüberstehen.« Er warf die Unterlagen auf den Tisch. »Verdammt, das ist reine Spekulation. Bevor wir hier ein Fass aufmachen, gehen wir mal zu unseren Psychologen und lassen uns ein Profil erstellen. Ob Alexander einer solchen Gruppe angehört, frage ich morgen seine Frau. Dann sehen wir weiter. Holger und ich knöpfen uns aber zuerst die Kowalski vor.«
*
Die Uhr ging schon auf zehn zu, als er endlich in Eitelsbach ankam. Elzbieta Kowalski befand sich bereits in einer Zelle. Um ein nochmaliges Abtauchen der Verdächtigen zu verhindern, hatte Brauckmann den Haftbefehl erwirkt. Eigentlich hätte Lichthaus die Polin gerne noch am gleichen Abend befragt, doch war es auch nicht falsch, sie ein wenig schmoren zu lassen. Die erste Nacht im Gefängnis hatte so mancher Zunge Flügel verliehen.
Ihre kunstvoll gearbeitete Haustür war mehr als einhundert Jahre alt, und Claudia hatte sich geweigert, das alte handgeschmiedete Schloss durch ein modernes Sicherheitsschloss zu ersetzen. Eine Sicherheitskette war das Äußerste gewesen, zu dem sie sich hatte bewegen lassen. Folge war, dass er nun einen über zehn Zentimeter langen Hausschlüssel herumschleppte. Es knackte laut, als die Tür aufsprang und ihm wohlige Wärme entgegenströmte. Henriette war schon im Bett, und so kam ihm niemand auf kurzen Beinen entgegengeschossen. Wie immer fühlte er sich nach dem Betreten des Hauses fast augenblicklich entspannt und streifte erleichtert die Schuhe ab, hängte die Jacke an die Garderobe und ging auf Strümpfen in die Küche, aus der Stimmen zu ihm drangen, die aber nun verstummten.
Ihr alter Freund Otto und Claudia saßen bei einem Wein, der Ausdruck in den Gesichtern beider drückte jedoch kaum Feierlaune aus. Lichthaus stieg vorsichtig über ein Sammelsurium von Henriettes Spielzeug hinweg und nahm Platz. Normalerweise hätte er sich gefreut, den Alten zu sehen, da andererseits aber das Gefühl, es läge etwas in der Luft, partout nicht weichen wollte, kroch Misstrauen seinen Nacken hinauf wie eine schleimige Schnecke. Claudias Blick blieb ernst, und auch Ottos sonst braune Gesichtsfarbe wirkte fahl. Was Lichthaus aber am stärksten irritierte, war sein stumpfer, in sich gekehrter Gesichtsausdruck. Ottos blaue Augen blitzten meistens schelmisch, wovon sich jedoch im Augenblick keine Spur zeigte. Lichthaus küsste seine Frau flüchtig und reichte dem Freund die Hand. »Was ist los?«
Claudia schwieg und schaute Otto an, der sich ein Lächeln abrang, das schief geriet. »Gut aufgepasst, Johannes.« Er verstummte, suchte nach Worten. »Ich war heute beim Urologen, der hat letzte Woche einen Ultraschall gemacht und eine Gewebeprobe entnommen. Prostatakrebs.«
»Scheiße!« Lichthaus verzog schmerzhaft das Gesicht und schenkte sich ein Glas Wein ein. »Und weiter?«
»Termine über Termine.« Otto setzte seine Brille auf und las blinzelnd von einem großen Blatt ab: »Die wollen jetzt prüfen, ob ich schon Metastasen habe. Ultraschall der Nieren, Röntgen der Harnwege und der Lunge, Kernspinuntersuchung und Skelettszint... äh, ich weiß nicht, wie man das spricht. Eine Knochenuntersuchung.« Er schaute auf die Tischplatte. »Na ja, an irgendetwas muss man ja sterben.«
»Komm, warte mal ab, was dabei rauskommt. Wenn du
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