Bauernopfer
muss diesen Auftrag nicht haben. Natürlich wär das lukrativ. Aber ich hab meine paar Kröten für den Ruhestand zusammen. Ich mach noch weiter, solang ich kann oder will und dann gibt es die Firma Gessler eben nicht mehr.«
Bei der Frage nach einem Erben, hatte Charly den Eindruck, dass Gessler kurz zögerte, bevor er sie wissen ließ, dass seine Ehe leider kinderlos geblieben sei. Nur in diesem einen Moment blickten die strahlend blauen Augen ins Leere und wirkten eine Sekunde lang traurig.
Als Alibi konnte Gessler anführen, dass er am Mittwoch letzter Woche nach Malaysia geflogen war, um dort Verhandlungen mit dem genannten Geschäftspartner zu führen. Erst am Sonntagabend war er wieder in München gelandet.
»Ist dir was aufgefallen?«, fragte Sandra auf dem Weg zum Wagen.
»Er riecht nach nichts.«
»Quatsch! Hast du gesehen, wie sie von ihrem Chef gesprochen hat?«, fragte sie.
»Wie sie von jemand spricht, kann ich nur hören, nicht sehen«, antwortete Charly. Aber er wusste schon, was seine Kollegin meinte. Sandra war eine Frau und damit hatte sie den ›sozialen Blick‹. Genau wie Petra. Die konnte zu Charlys ständiger Verblüffung auch Beziehungen von Personen erkennen, als wären es Bänder zwischen den Beobachteten. Erst vor Kurzem waren Petra und Charly mit einem befreundeten Ehepaar beim Pizzaessen gewesen. Charly glaubte, sie hätten alle zusammen einen harmonischen und geselligen Abend verbracht. Doch zu Hause fragte ihn Petra dann, ob er denn nicht gesehen habe, wie sehr es bei den beiden kriselte. Er sei ja offensichtlich bemüht, das Ganze noch zu retten. Aber sie würde die Beziehung garantiert schon als beendet betrachten. Charly hatte Petra vorgehalten, sie würde wieder maßlos übertreiben. Eine Woche später trennte sich das befreundete Ehepaar auf ihre Initiative hin.
»Wie kommt ihr Männer eigentlich durchs Leben, wenn ihr anscheinend völlig blind herumlauft?«, wollte Sandra wissen.
»Das kann ich dir erklären«, antwortete Charly. »Das liegt an der Evolution. Wir Männer müssen den Säbelzahntiger hinter dem nächsten Felsen sehen. Und Säbelzahntiger bedeutet Gefahr. Ob der Säbelzahntiger verliebt oder geschieden oder zerstritten oder schwul ist, hat uns nicht zu interessieren. Solche Gedanken führen nur zu unvorsichtigem Zögern und damit zu Lebensgefahr. Während wir über die sozialen Bindungen des Säbelzahntigers nachdenken, würde er unsere Frauen und Kinder fressen. Darum!«
Sandra ließ sich nicht anmerken, ob sie diese Erklärung akzeptierte. »Jedenfalls hat unsere Säbelzahntigerin vermutlich eine ganz innige Beziehung zu ihrem Chef.«
Von zu Hause war Charly gewohnt, diese Aussage zu akzeptieren und basta.
Samstag, 18. Oktober
»Weißt was, Schorschi: Wir zwei machen uns heute einen richtig schönen Samstag!« Petra legte ihre Hand auf die seine und lächelte ihn erwartungsvoll an. Sie hatten lange geschla fen und saßen jetzt zu Charlys Freude bei einem üppigen Frühstück mit frischen Semmeln, Wurst und gekochten Eiern. »Wir erledigen jetzt schnell unsere Arbeiten und dann könnten wir ein bisserl shoppen gehen«, setzte Petra ihre Tagesplanung fort. »Du brauchst dringend ein paar neue Jeans. Und für den Winter mal einen g’scheiten Pullover. Außerdem kann ich dir dann die Jacke zeigen, die ich in der Stadt gesehen hab. Die Julia bräucht endlich mal eine richtige Lampe an ihrem Schreibtisch, und beim Möbelhof gibt’s heut Prozente. Und im Gartencenter ist auch Aktion. Wo wir doch noch was für den Wintergarten brauchen. Der Handwerkermarkt in Reichertshofen find’ heut wieder statt. Da gibt’s doch immer so schöne Sachen. Und dann könnten wir …«
»Schatz!« Charly legte nunmehr seine zweite Hand auf Petras, wie in dem Kinderspiel, in dem man aus den Händen einen Turm baut. »Ich würd natürlich sehr gern mit dir einkaufen geh’n. Aber ich muss Mittag in d’Arbeit. Wir haben heut’ Nachmittag eine Observation geplant.«
»Oh, Mann! Nicht mal mehr am Wochenende bist daheim!« Petras gute Laune verpuffte schlagartig, kehrte jedoch genauso schnell wieder zurück, als ihre Schwester am Telefon zusagte, mit ihr den Handwerkermarkt, das Gartencenter und das Möbelgeschäft zu besuchen.
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, aber unvermindertem Appetit löffelte Charly ein Viereinhalb-Minuten-Ei leer. Während er einen kräftigen Schluck aus der Kaffeetasse nahm, schlug er den DonauKurier auf. Und er verschluckte sich, als er
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