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Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen

Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen

Titel: Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Silag
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eigentlich nie wirklich gesagt, dass er schwul ist, aber ich denke es mir einfach. Wenn man mit so vielen männlichen Balletttänzern Kontakt hat wie ich, bekommt man eine ziemliche Antenne dafür.
    Dass ich diese Lüge wiederhole, macht mir mehr Gewissensbisse, als dass ich Vince so angefahren habe. In leichterem Ton fahre ich fort: »Ich finde es nur so überraschend! PJ ist einfach nicht der Partytyp.«
    »Die Party klingt cool«, sagt Vince, ohne zu verstehen, worauf ich hinauswollte. Im Hintergrund höre ich Lärm und frage mich, was los ist.
    »Ja, na ja«, entgegne ich. »Meine Telefonkarte ist fast alle. Ich mach besser mal Schluss. Lieb dich.«
    Ich lege auf und humple nach Hause, wobei ich den ganzen Weg lang fröstle. Jetzt, nach Sonnenuntergang, ist die Herbstluft beißend kalt und ziemlich unangenehm.
    Ich wünschte, ich könnte mit meiner Mom über alles reden. Früher haben wir immer alles zusammen gemacht: vom Nachtönen der Strähnchen bis hin zum Einkäufen. Jedes Mal, wenn ich einen Rat brauchte, konnten meine Mom und ich es besprechen. Sie war immer für mich da.
    Am Freitagmorgen geht es mir zum ersten Mal, seit Sara- Louises Party - nein, sogar seit meiner Ankunft in Paris - so richtig gut. Ich schwinge meine Beine schon lange vor dem Weckerklingeln aus dem Bett, und als ich auf dem rechten Fuß auftrete, fühlt sich mein Gelenk stabil an. Es tut auch fast überhaupt nicht mehr weh.
    Den ganzen Tag über gehe ich zwar noch auf Krücken, aber am Ende des Schultags belaste ich meinen Fuß mal probehalber ohne. Ich könnte wieder tanzen, denke ich. Ich sollte es zumindest versuchen.
    Leicht verspätet schlüpfe ich in die Klasse, in einem schwarzen Trikot mit tiefem Rückenausschnitt und mit einem straffen Dutt hoch oben am Kopf. Als ich zusammen mit den anderen Ballerinas die barre-Übungen durchmache, sind meine Muskeln im Glücksrausch. Endlich wieder bewegen!
    Trotz meines dreiwöchigen Fehlens in der Ballettklasse der Opera, fühlen sich meine Arme leicht und anmutig an, meine Beine stark und kräftig.
    »Bon, hon, Olivia!«, ruft die Lehrerin, als ich eine einfache Serie von Sprüngen ausprobiere, während ich mich mit beiden Händen am harre festhalte. Als wir in einer Reihe hintereinander schnell pique -Drehungen quer über den glänzenden Holzboden machen, bin ich selbst überrascht, wie geschmeidig und gleichmäßig sich das nach so langer Zeit ohne Training anfühlt. Ich bin total fokussiert; mir wird überhaupt nicht schwindelig.
    Am Ende des Unterrichts sehe ich zwar im Studiospiegel, dass mein Knöchel anschwillt, aber ich bin viel zu euphorisch, um zu merken, ob er wehtut oder nicht. Die Musik reißt mich mit, treibt mich an, immer weiter und immer weiter. Die Schlusskombination wäre sogar bei bester Gesundheit hart - es ist auch nicht ganz ungefährlich, wie sehr ich mich anstrenge.
    Ein amerikanischer Lehrer hätte mir das nie so schnell nach einer Verletzung erlaubt, geht es mir durch den Kopf, während ich mich fröhlich immer rundherum drehe, genau wie ich es mir erträumt habe. Und zum ersten Mal, seit ich in Paris bin, tanze ich mit der ganzen Freude, mit der man Ballett eigentlich tanzen muss. Hier existiert kein Brian, kein Vince, kein Stipendium mehr. Es gibt nur noch mich und das wunderbare Paris - die Gesichter von Fremden, die Lieder, die aus geöffneten Fenstern dringen, der Wind von der Seine -, genau wie Thomas es gesagt hat. Während ich meine Beine in der Luft spreize und meine ganzen Sprünge und Drehungen ohne Fehler ausführe, bewegt mich dieses Erlebnis so tief, dass mir sogar ein paar Tränen über die Wange kullern.
    Ganz plötzlich hört der Klavierspieler auf zu spielen und ich erstarre in der letzten Position. Schwer atmend merke ich, dass Thomas hinter mir steht, seine Hand am Gesicht, als hätte er ein Gespenst gesehen oder vielleicht auch einen Engel.
    »Thomas!«, sage ich völlig entgeistert. »Was machst du denn hier?«
    »Maman hat mich gebeten, hierherzukommen und dich zu suchen«, entgegnet er. »Sie meinte, du darfst noch nicht tanzen.« Seine Miene ist streng und ernst. Es ist ihm anzumerken, dass er in ziemlicher Eile aus dem Haus gegangen ist. Trotz des windigen, regnerischen Tages draußen trägt er nur eine Windjacke über seinem zerknitterten T-Shirt und der langen Hose. Bei seiner Hetzjagd ins Tanzstudio ist Thomas ziemlich nass geworden. Ich habe ein ganz schlechtes Gewissen, dass ich mich heimlich in den Ballettunterricht geschlichen

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