Beautiful Americans - 01 - Paris wir kommen
ziehe eine Grimasse. »Nein, nur wenn man mich jagt.«
Jay lacht laut. »Der war gut. Nein, Mann, ich bin echt ganz heiß darauf, das Wochenende mal aus Paris rauszukommen. Ich freue mich schon seit Langem auf Lyon.«
»Magst du Paris denn nicht?«
»Nein, nein«, sagt Jay. »Doch. Aber habe ich dir noch gar nicht von meiner Gastfamilie erzählt?«
Ich schüttle den Kopf.
»Na schön, lass es mich so ausdrücken: Ich wohne sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne genau am anderen Ende des Spektrums der meisten Schüler aus dem Lycee. Schon mal was von Montreuil gehört?«
Wieder schüttle ich den Kopf.
Jay beugt sich vor und zieht eine Pariser Metro-Karte aus seiner Gesäßtasche. Er deutet auf einen Bahnhof namens Porte de Montreuil, am östlichen Rand des spinnenartigen Netzes der Pariser Metro-Linien. Mit einem Finger fährt er dann die Linien nach, die er jeden Tag nehmen muss, um ins Lycee zu gelangen: drei Haltestellen auf der limonengrünen Linie Nummer 9 bis zur Nation-Station, dann umsteigen in die kobaltblaue Linie Nummer 2, die in einem Halbkreis um den nördlichen Rand der Stadt fährt, durch Belleville und entlang des unteren Rands von Montmartre und hinüber nach Ternes und dem Parc Monceau, wo das Lycee liegt, ebenso wie die elegante Unterkunft von PJ, Olivia, George, Drew und den texanischen Zwillinge, um nur ein paar zu nennen.
»Und Alex und ich dachten schon, wir hätten es hart erwischt!«, bemerke ich und zeige ihm, welche Route wir fahren müssen. Es erscheint lang, die 6er von der Cambronne aus zu nehmen und dann für nur wenige Haltestellen in die 2er umzusteigen. Aber ich mag die Pendelstrecke, die Alex und ich jeden Morgen fahren. Wir trinken dabei Take-away- Kaffee aus dem kleinen Laden unter den Metro-Gleisen und lächeln uns immer kurz zu, wenn wir rechts den Eiffelturm an uns vorbeisausen sehen.
Jay streift mich mit seinem Finger, als er die U-Bahn-Karte wieder zusammenfaltet. Ich atme scharf ein und rutsche auf meinem Stuhl herum. Ich halte es fast nicht aus, so lange ganz nah neben ihm zu sitzen. Könnte es sein, dass er mich gerade absichtlich berührt hat?
»Es ist nicht so hart, wie es vielleicht gerade geklungen hat«, sagt Jay gut gelaunt. »Sammy wohnt auch dort.« Jay nickt in Richtung eines Schülers, mit dem ich noch kein einziges Wort gewechselt habe. Ein Typ, den ich bisher für einen zu großen Langweiler gehalten habe, als dafss ich mich mit ihm abgeben würde. »Wir hatten da draußen schon viel Spaß, haben in der Spielhalle Videospiele mit ein paar einheimischen Jugendlichen gespielt.«
»Ach wirklich?« Jay hat französische Freunde? Was könnte noch cooler sein? Alex und ich stecken dagegen in unserer kleinen Dreierclique mit Olivia fest, und das auch nur, wenn sie Zeit hat, mal was mit uns zu machen. Meistens treffen nur Alex und ich uns, hängen faul herum und quatschen auf Englisch miteinander, wie gern wir einen Freund hätten. Mit uns hat bis jetzt noch kein junger Franzose gesprochen. Warum auch?
»Ja, wir haben ein paar coole Typen kennengelernt«, erzählt Jay. »Die Nachbarschaft da ist gar nicht so anders als die Nachbarschaften in den Staaten.«
Ich muss verbergen, wie beeindruckt ich bin. Jay ist so selbstsicher. Wenn man mir seine Unterkunft zugeteilt hätte, hätte ich wahrscheinlich losgeflennt und meine Mom angerufen, damit sie was unternimmt. Ich möchte nicht weltfremd und behütet erscheinen, wenn ich sage, dass ich noch nie jemanden wie ihn kennengelernt habe - er hatte wahrscheinlich eine viel härtere Kindheit als ich in Germantown, Tennessee. Und falls Jay auch schwul ist... Man muss sich nur vorstellen, wie schlimm es für ihn gewesen sein muss aufzuwachsen, während sie von Stadt zu Stadt gezogen sind, weil seine Eltern auf der Suche nach Arbeit waren. Jay hat uns in einem Referat in Französisch erzählt, dass seine Eltern aus Guatemala stammen, und sie schon überall gewohnt haben: Texas, Chicago, Arizona und jetzt Minneapolis. Er musste schon ein paarmal in seinem Leben wieder ganz von vorne anfangen. Vielleicht ist das der Grund, warum er sich noch nicht geoutet hat - er hatte noch nie jemanden, dem er so weit vertrauen konnte, dass er es ihm als Erstem sagt.
»Üble Sache wegen PJ, hm?«, bemerkt Jay.
»Was ist mit PJ?«, frage ich verdutzt. Ich bin zu abgelenkt von Jays gut aussehendem Gesicht, um zu verstehen, was er meint.
»Ach so! Du meinst, dass sie nicht mitfahren darf?«
»Ja, genau«, sagt Jay. »Das
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