Beautiful Americans 03 - Leben á la carte
mich in jener schrecklichen Nacht bei Drew abgeholt hat. Die meisten Erinnerungen daran sind wie in einem schwarzen Loch versunken, aber ich weiß noch genau, dass sie extra einen ihrer Pelze mitgebracht hat. Ich saß mit Mme Cuchon und Zack in Drews Wohnung auf der Couch, habe gezittert und mit aller Macht versucht, meinen Brechreiz zu unterdrücken. Als ich Mme Rouille gesehen habe, habe ich angefangen zu weinen.
»Bitte erzählen Sie es nicht Thomas«, sagte ich voller Schuldgefühle, auch wenn alle meinten, es sei nicht meine Schuld.
Obwohl Zack mir noch immer die Reste von Erbrochenem aus dem Gesicht und aus den Haaren und von meinem Oberteil wischte, hat mir Mme Rouille ihren Nerz übergeworfen und mich in ihrem Mercedes nach Hause gefahren, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen. Sobald sie geparkt hatte und sich von der Concierge den Schlüssel aus der Hand nehmen ließ, sagte sie nur: » Maintenant , tu es hors danger. - In Sicherheit.«
»Soll ich einen deiner Freunde anrufen?«, fragt sie mich jetzt. »Peut-être Alex?«
»Nein, danke«, entgegne ich und ziehe mir die schwarze Daunendecke, die mit kleinen weißen Blümchen bestickt ist, bis zum Kinn hoch. »Ich bin okay. Ich möchte nur etwas schlafen.«
In letzter Zeit ist es das Einzige, was ich gern tue.
***
Als ich aufwache, habe ich einen solchen Durst, dass ich, während ich langsam zu Bewusstsein komme, das Gefühl habe, krank zu sein oder im Sterben zu liegen. Ich will aber nicht einfach Wasser oder Tee, sondern etwas mit Geschmack, wie Orangensaft oder Limo. Ich entscheide mich für Mineralwasser mit Himbeeraroma, das schon ein bisschen schal schmeckt. Auf dem Weg zurück in mein Zimmer, sehe ich, dass der Fernseher läuft. Thomas schläft vor einer laufenden Nachrichtensendung.
Mithilfe der Fernbedienung schalte ich den Fernseher aus. Thomas regt sich auf der Couch. »Bist du wach?«, flüstere ich ihm zu. »Thomas?«
»Olivia«, murmelt er auf so vertraute und tröstliche Weise, dass ich mich plötzlich neben seine schlafende Gestalt setze und meine Hand auf Brusthöhe seines T-Shirts lege. Thomas ist recht dünn. Ich kann spüren, wie sein Herz schlägt und seine Atemzüge tiefer werden, während er wach wird.
Seine Augenlider öffnen sich flatternd. Das Leuchten des Fernsehers spiegelt sich in seinen Augen. In dem seltsam bläulichen Schein bemerkt Thomas mich und zieht mich in seine Arme. Die Couch ist breit genug für uns beide. Ich vergrabe mich in ihm und spüre, wie er sein Gesicht in meinem Haarwirbel verbirgt, der noch immer ein bisschen dreckig und salzig von der Nachmittagsprobe ist.
»Tu me manques«, flüstert er.
»Du fehlst mir auch«, sage ich zu ihm, die Lippen gegen den T-Shirt-Stoff an seiner Schulter gedrückt. »Sehr.«
»Bist du krank?«, fragt er mich. »Heute, du hast geschlafen den ganzen Tag, Maman hat mir gesagt.«
»Ich habe mich nicht gut gefühlt«, erwidere ich. Thomas riecht wunderbar nach Moschus, nach Seife und Kneipenrauch und nach den Straßen von Paris, durch die er immer mit seinem Fahrrad fährt. »Aber jetzt geht es mir schon wieder etwas besser.« Ich hebe mein Gesicht und hoffe, dass er mich küsst.
»Olivia«, haucht Thomas. »Wir sollten das nicht tun ...«
Aber seine Lippen sind zu zart, zu sinnlich, um meine Sehnsucht, ihn zu küssen, unterdrücken zu können. Ich möchte, dass bei Thomas und mir wieder alles so wird, wie es mal war - früher, in dieser unschuldigen Zeit, habe ich bei ihm völlig unerwartet Liebe gefunden. Bei Thomas hat sich nichts dunkel oder beklemmend angefühlt. Als ich ihn kennenlernte, hatte ich das Gefühl, dass er mein Wesen im Innersten versteht.
Ich küsse ihn leidenschaftlich, gierig danach, wieder dieses tiefe gegenseitige Verständnis füreinander zu spüren, das uns an Heiligabend, als wir das erste Mal miteinander schliefen, zusammengebracht hat. Ich möchte alle schiefen Blicke, mit denen ich in der Schule angesehen werde, und die mitleidigen Mienen der Lehrer, von Mme Rouille und Zack verdrängen.
Von der Tanzklasse trage ich noch ein Trikot. Ohne meinen Blick von Thomas abzuwenden, ziehe ich mir beide Träger von den Schultern.
»Bist du sicher?«, frage ich ihn, wohl wissend, dass dies vielleicht die letzte Gelegenheit ist, uns zu stoppen.
Thomas erwidert nichts. Wortlos legt er seine Hände um mich und trägt mich sanft in mein Zimmer. Ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit überkommt mich, und ich schließe die Augen, den Kopf an seine
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