Bedrohung
übergewichtige Kerl war, den sie ein paarmal auf dem Revier gesehen hatte. Wenn ja, würde er die Verfolgung nicht lange durchstehen.
»Behalten Sie Sichtkontakt, 2049«, kam es aus der Zentrale, »aber nehmen Sie ihn nicht fest. Ich wiederhole: nicht festnehmen. Wir fordern bewaffnete Unterstützung zur Festnahme an.«
»Tango Four an Zentrale, nehmen motorisierte Verfolgung auf«, gab Owen durch. »Wir bewegen uns auf der Tachbrook Street in nördlicher Richtung. Geschätzte Ankunft am Bridge Place: zwei Minuten.«
»Handeln Sie mit äußerster Vorsicht, Tango Four. Halten Sie Sichtkontakt, aber schreiten Sie nur ein, wenn Sie sicher sind, dass er unbewaffnet ist.«
Genau dieser Schwachsinn, dachte Tina, machte heutzutage die Polizeiarbeit aus. Es ging nur noch um Sicherheit, Risikoabwägung und körperliche Unversehrtheit. Man konnte nicht mehr so einfach einen Verbrecher schnappen. Erst musste man durch ein Dutzend Reifen springen und die nötigen Formulare ausfüllen, ehe man einen Täter verhaften durfte. Kein Wunder, dass sie den Krieg gegen das Verbrechen verloren.
»Okay, okay, halt hier an«, forderte Owen. »Bis zum Bridge Place sind es nur noch ein paar hundert Meter. Und sei um Gottes willen bloß vorsichtig. Ich weiß, wie du drauf bist, aber wenn er eine Pistole hat, dann werde ich es sein, der die Kugel abkriegt.«
Tina bog scharf nach rechts ab in eine schmale Wohnstraße, die auf beiden Seiten vollkommen zugeparkt war. Zum ersten Mal seit Monaten spürte sie wieder einen Adrenalinstoß. Das war echte Polizeiarbeit. Die Verfolgung, der Thrill, die Festnahme. Wer wie Owen jedes Risiko scheute, sollte sich, wenn es nach ihr ginge, hinter seinem Schreibtisch verschanzen.
»Da ist er!«, rief Owen. Ein asiatisch aussehender Mann rannte fünfzig Meter vor ihnen über eine Kreuzung. Owen griff sofort nach dem Funkgerät und meldete die neue Position des Flüchtenden, während Tina Gas gab und, die Warnung der Zentrale ignorierend, die Verfolgung aufnahm.
Doch als sie vielleicht noch zwanzig Meter von der Kreuzung entfernt waren, fuhr vor ihnen ein SUV aus einer Parklücke und versuchte zu wenden. Tina musste so scharf bremsen, dass sie und Owen fast gegen die Windschutzscheibe geflogen wären.
»Verdammt, mach Platz, mach Platz!«, schrie Owen, während die Frau am Steuer sie entgeistert ansah und mit ihrem überdimensionierten Gefährt die Straße blockierte. Owen zückte seine Dienstmarke und hielt sie aus dem Fenster.
»Polizei! Machen Sie Platz! Scheiße, mach endlich Platz, verdammt!«
Die Frau schrie zurück, offenbar regte sie sich über etwas auf, jedenfalls bewegte sie sich nicht.
Ach, scheißegal, dachte Tina und sprang bei laufendem Motor aus dem Wagen. Natürlich verletzte sie wieder einmal alle Vorschriften, aber es war ihr egal, und sie sprintete die Straße hinauf. Sie redete sich ein, die Tatsache, dass es sich um einen Asiaten und höchstwahrscheinlich um einen Moslem handelte, würde sie nicht beeinflussen; im Grunde ging sie von einem Terroranschlag aus, und dann durfte sie den Verdächtigen um keinen Preis entwischen lassen.
Als sie die Kreuzung erreichte, sah sie ihn etwa vierzig Meter vor sich Richtung Vauxhall Bridge Road rennen. Das erschien ihr merkwürdig, denn das war die ungefähre Richtung, aus der er gekommen war. Er hatte also nicht viel Zeit damit verbracht, sich einen Fluchtweg zurechtzulegen. Außerdem konnte sie selbst aus dieser Entfernung erkennen, dass er erschöpft war und langsamer wurde. Sie würde ihn einholen können.
Doch da drehte er sich um, sah sie, wurde noch einmal schneller und verschwand in einer Nebenstraße. Aber Tina ging nicht umsonst fünfmal pro Woche ins Fitnessstudio. Ohne Ausnahme. Es war ihr Tempel, und das Training bereitete ihr Vergnügen, deshalb war sie extrem fit und jung genug, ein hohes Tempo anschlagen zu können. Sie trat an, fand ihren Rhythmus, und als sie an die Ecke kam, hatte er kaum mehr zwanzig Meter Vorsprung.
Wieder schaute er sich um, und diesmal konnte Tina ihn gut erkennen. Er war selbst noch jung, wahrscheinlich höchstens Anfang dreißig, und mit Anzug, Krawatte und schwarzen Budapestern geschäftsmäßig gekleidet. Was ihr erneut merkwürdig vorkam. Wie auch der panische Ausdruck in seinem Gesicht. Zwar zeigten Kriminelle, wenn sie verfolgt wurden, durchaus gelegentlich Anzeichen von Angst, aber niemals so. Alles an ihm war reine Panik. Dieser Mann wirkte völlig verängstigt, mehr wie ein Opfer denn wie
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