Begegnungen (Das Kleeblatt)
biss sich auf die Lippen. Wie bei jeder noch so kleinen Schwindelei färbten sich auch dieses Mal ihre Wangen mit verräterischem Rot.
Nein, sie wollte Katrin wirklich nicht alleine lassen. Genauso wenig wie sie vorgehabt hatte, ihre Tochter überhaupt erst in diese Situation zu bringen.
Andererseits konnte sie unmöglich länger in Alains Nähe bleiben. Sie erinnerte sich zu gut, dass sie nicht die Kraft hatte, sich auf Dauer seiner Ausstrahlung zu entziehen. Sie brauchte ihn bloß anblicken und schon glaubte sie sich angesichts seiner überragenden Größe schwach und hilflos. Wie es sich wohl anfühlte, von ihm gehalten und getröstet zu werden? Hatte sie es tatsächlich vergessen?
Mit einem Mal war sich Beate sicher, dass ihren tief verwurzelten Gefühlen für diesen Mann selbst die Jahre fernab jeglicher Zivilisation, Jahre voller Einsamkeit, Tränen und Gewalt nichts hatten anhaben können. Wie auch, ging es ihr durch den Kopf, hatte sie doch jeden Tag das quicklebendige Produkt ihrer stürmischen Liebe zu Alain vor Augen – Alicia Katrin, diesen zarten Engel mit den markanten Gesichtszügen ihres Vaters, seinem bezaubernden Lächeln, seiner Willensstärke und Intelligenz. Und trotz seiner Zweifel hatte sie ebenfalls die feingliedrige Gestalt von ihm geerbt.
„Bea?“, brachte er sich zurückhaltend in Erinnerung.
„Oh, entschuldige, ich … ich bin wohl etwas …“
„Du musst mindestens ebenso müde und erschöpft sein wie ich.“
„Nein!“, schrie sie hektisch auf und stolperte ein paar Schritte zurück. Ihre Hände flogen in die Höhe, als müsste sie sich gegen einen unsichtbaren Angreifer wehren. „Nein, Alain, es ist schon in Ordnung. Ich … ich war bloß in Gedanken, nichts weiter.“
Hinter seiner gefurchten Stirn arbeitete es fieberhaft. Ihm musste etwas einfallen. Er musste sie davon abbringen , das Dorf ohne ihn zu verlassen. Wenn er jetzt alleine in das Hotel zurückging, würde sie ohne jeden Zweifel die Gelegenheit nutzen, um mit Catherine unbemerkt zu verschwinden.
„Wo wirst du heute Nacht bleiben?“
Es war ein Hieb mitten durch sein Herz, als er beobachtete, wie sie ihm erschreckt auswich. Sein Magen krampfte sich zusammen.
„Bitte, Bea, du musst keine Angst haben, bloß weil ich dich das frage. Du weißt doch, dass du dich nicht vor mir fürchten musst“, wiederholte er sanft, nichtsdestotrotz mit Nachdruck. „Ich möchte, dass du … Du solltest … danach nicht irgendwo schlafen. Du brauchst eine Dusche“, mutmaßte er und fuhr sich mit den Fingern durch sein eigenes, von Staub und der sengenden Hitze stumpfes Haar. Er lachte unsicher. „Ich meinte, du möchtest unter Garantie duschen und du solltest vor allem in einem richtigen Bett schlafen.“
„Ich werde den Arzt fragen“, begann sie zögernd, „ob ich …“
Selbstverständlich war ihr klar, dass er es nicht gestatten würde. Das hatte er noch nie getan und sie wäre zweifellos die Letzte, für die er eine Ausnahme machen würde.
„Vielleicht lässt er mich hier , in Katrins Zimmer, übernachten.“
Voller Entsetzen spürte sie, wie ihr die Röte den Hals nach oben kroch und ihr Gesicht überschwemmte.
Alains Stimme hatte nichts von ihrer gleichbleibenden Freundlichkeit eingebüßt, im Gegenteil, ein Lächeln spielte neckend um seinen fein geschwungenen Mund, als er erwiderte: „Du kannst nicht lügen, Bea. Du kannst es einfach nicht, also lass diese kümmerlichen Versuche bleiben. Selbst wenn ich manchmal aus purem Mitleid so getan habe, als hätte ich es nicht gemerkt, waren deine Schwindeleien in Wirklichkeit stets mühelos zu durchschauen.“
Ihre Antwort war nicht mehr als ein Stoßseufzer in Richtung Himmel. Alains Grinsen verstärkte sich, weil er einen Hoffnungsschimmer am Horizont zu erkennen glaubte, dass Beate für ihn noch nicht verloren war. Er musste geduldig mit ihr sein, unendlich geduldig und vorsichtig. Und dann, eines Tages …
„Wann hast du eigentlich das letzte Mal gegessen?“
Du Trottel! Ist das nicht das mit Abstand Dümmste, was du fragen konntest?
„Ich habe einen Bärenhunger, wollte ich damit sagen. Lass uns irgendwo essen gehen, bevor ich vor Schwäche umfalle“, versuchte er sich in Schadensbegrenzung und klopfte sich mit der flachen Hand auf den hohlen Magen.
Erst jetzt, da er die Rede auf dieses Thema brachte, wurde ihm bewusst, dass er damit keineswegs übertrieb. Am frühen Morgen hatte er einer der Krankenschwestern ein trockenes Croissant und einen Becher
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