Begegnungen (Das Kleeblatt)
einmal auf den Zettel in seiner Hand. Ein Besuch bei Beas Eltern würde ihn zumindest für kurze Zeit von seinen sinnlosen Grübeleien und dem nervenaufreibenden Warten ablenken.
Unschlüssig stand er vor dem schmiedeeisernen Tor.
Zum wiederholten Mal verglich er die Adresse, die Adrian ihm notiert hatte, mit dem Stadtplan. Das Haus thronte inmitten eines phantasievoll angelegten Gartens auf einem Hügel und konnte es durchaus mit der Villa Chez le Matelot in Paris aufnehmen, in der er selber aufgewachsen war. Ungläubig schüttelte er den Kopf. Beate hatte ihm nie erzählt, dass ihre Eltern ein derart herrschaftliches Haus bewohnten. Er wusste nicht einmal, womit sie ihr Geld verdienten. Er wusste so wenig von der Frau, die er liebte!
Fröstelnd kroch er tiefer in seine Lederjacke. Der Herbst hatte Deutschland bereits fest im Griff. Kalter Wind trieb raschelnde Blätter vor sich her.
Und wenn Beas Eltern nun gar nicht die Hausbesitzer waren, sondern lediglic h zum Personal gehörten? Wenn Beate schon nicht darüber geredet hatte, warum hatte er sich nicht wenigstens bei Adrian danach erkundigt? Allerdings schien der ebenfalls nicht allzu viel von den Freunden seiner Frau zu wissen.
Alain beobachtete, wie eine kleine Gestalt zwischen den Sträuchern und Hecken hin und her huschte. Aus der Art und Weise, wie sie sich bewegte, schloss er auf eine Frau. Er war sich nicht sicher, ob er mit diesem unscheinbaren Wesen tatsächlich Beates Mutter vor sich hatte. Sie trug schlammverschmierte Gummistiefel und eine viel zu große Wattejacke. Ihre Haare hatte sie unter einem Strohhut versteckt. Ihre Körpergröße reichte bei weitem nicht an die von Beate heran und verstärkte Alains Zweifel.
„Hallo, Madame !“, versuchte er sich bemerkbar zu machen.
Die Frau richtete sich langsam auf. Eine Hand ins Kreuz gestützt, wischte sie sich mit der anderen über die Stirn.
„Würden Sie mir bitte sagen, ob hier Familie Schenke w ohnt?“, erkundigte sich Alain.
„Ja.“
„Es steht kein Name an der Klingel, deswegen …“
„Hier wohnt Familie Schenke. Was wollen Sie?“
Die schroffe Stimme missfiel Alain. Er schluckte und gab sich erst recht betont freundlich. „Ich bin ein Freund von Beate. Hält sie sich vielleicht derzeit bei Ihnen auf?“
„Beate? Hier?“ Die Frau verzog geringschätzig den Mund und lachte bitter. „Sie wohnt schon lange nicht mehr bei uns. Und ihr letzter Besuch liegt Ewigkeiten zurück.“
„Dürfte ich trotzdem mit …“
„Was wollen Sie von ihr?“
„Entschuldigen Sie vielmals, Madame . Mein Name ist Germeaux.“
Fasziniert beobachtete er, wie die Frau einen Moment wie erstarrt stand, dann ihren Rechen einfach fallen ließ und mit wieselflinken Trippelschritten auf das hohe, kunstvoll geschmiedete Gitter zueilte. Dass ihm sein Name sogar in Deutschland Tür und Tor öffnen würde, hatte er nicht erwartet.
Als sie vor ihm stand, wiederholte er mit einer leichten Verbeugung: „ Bonjour, Madame . Erlauben Sie mir mich vorzustellen: Alain Germeaux. Ich bin der Sohn von Pierre Germeaux.“
„Pierre? Pierre Germeaux aus Paris?“ Die Frau schien zu überlegen, nickte bedächtig und gab ohne Umschweife zu: „Ja, ich erinnere mich an ihn.“
Natürlich erinnerte sie sich an ihn! Und wie sie sich erinnerte! Nicht eine Sekunde musste sie nachdenken, woher sie diesen Namen kannte. Wie hätte sie jemals diesen Heißsporn von einem Jungen vergessen können? Diesen romantischen, mit fast noch kindlicher Begeisterung für sie schwärmenden roué , der damals genau wie sein Sohn jetzt mit leuchtend blauen Augen vor ihr gestanden und sie erwartungsvoll angeschaut hatte.
Alain atmete auf. Es war also wirklich Beates Mutter.
Schweigend musterte sie den jungen Mann, der eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrem früheren Geliebten hatte. Als Alain nichts erwiderte, trat sie einen Schritt zurück und öffnete zögerlich das Tor. „Kommen Sie herein.“
„Es ist nett von Ihnen , sich für mich Zeit zu nehmen. Ich werde Sie bestimmt nicht länger als nötig aufhalten.“
Seine Worte erinnerten sie an die Galanterie und Eloquenz von Pierre Germeaux und ein Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Eine Spur zugänglicher erkundigte sie sich: „Darf ich fragen, woher Sie Beate kennen?“
„Sie hat die letzten beiden Jahre in Pierres Haus in Paris gelebt. Vor ein paar Tagen ist sie überraschend und ohne jedes Wort verschwunden. Da ich Beate eine wichtige Nachricht überbringen muss, bin
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