Beginenfeuer
unter den Wachen des Châtelets gehabt haben, damit ein solches Wunder geschehen konnte.«
Es gelang ihr nicht, dem Mann zu folgen, der sich jetzt rücksichtslos zum Haupteingang drängte. Auch Renard hatte sie verloren.
Die Sympathie der Pariser lag ausschließlich aufseiten des Entflohenen. Die Garde des Erzbischofs hatte die Hellebarden gekreuzt und hielt die Menge zurück.
Wenn sie sich in dieses Gewühl begab, würde sie zerquetscht werden. Es hatte keinen Sinn, ohne den Schutz ihrer Freunde an einem solchen Aufruhr teilzunehmen. Ysée machte kehrt und lief zum Pont au Change.
Die Luft knisterte vor Spannung, und ein krachender Donnerschlag entlud sich genau über ihr. Erste Regentropfen klatschten auf ihren Kopf. Das Gewitter brach unverhofft und mit solcher Wucht los, dass sie unter dem Türstock des ersten Brückenhauses Schutz suchen musste. Sie drängte sich eng an das Holz und wäre fast rückwärts ins Haus gefallen, als die Tür von innen aufgerissen wurde. Eine keifende Stimme erhob sich.
»Fort mit dir, du Nichtsnutz. Du wirst meinem Gemahl die Kunden vertreiben. Das ist kein Regenschutz für dich! Das ist das Haus des berühmten Goldschmieds Paul Lagny, der für den Heiligen Vater persönlich arbeitet! Scher dich fort, Spitzbube!«
Die empörte Bürgerin stieß dem vermeintlichen Gassenburschen einen Reisigbesen in den Rücken, sodass Ysée nach vorne in den Regen fiel und ihre Kappe verlor. Im Nu klebten die goldenen Löckchen nass und dunkel an ihrem Kopf. »Habt Dank für Eure Gastfreundschaft«, schrie sie, ganz Gassenjunge, wütend und rappelte sich auf. »Ich wünsch Euch ein undichtes Dach und Schweinekot in der Stube.« Um den Unrat zu fressen, liefen auch in Paris die Schweine frei herum. Besonders auf den Brücken kam es immer wieder zu unliebsamen Vorfällen, wenn eines der Tiere, in Panik versetzt, blind quiekend Schutz suchte. Die Frauen auf dem Pont au Change bewachten schon aus diesem Grund ihre Haustüren aufmerksam.
Ysée hob ihre Kappe aus dem Straßenschmutz, setzte sie wieder auf und streckte der zeternden Goldschmiedin die Zunge heraus, ehe sie davonrannte. So schnell, dass sie nicht einmal die Gestalt sah, die aus der Werkstatt kam und den Umhang des Goldschmieds trug. Der Regen rann ihr von der Kopfbedeckung in den Hals hinunter, und das Gewitter tobte mit unveränderter Wucht. Der leidenschaftliche Wutausbruch hinterließ in ihr ein unverhofftes Gefühl von Triumph und Befreiung. An manchen Tagen kam es ihr vor, als würde sie an all den Dingen, die sie nicht sagen durfte, ersticken.
Ysée bog eben in die Rue des Ursins ein, als eine Hand nach ihrer Schulter griff und sie mitten im Lauf gewaltsam zum Stehen brachte. »Auf ein Wort, Bürschchen!«
Sie zuckte zusammen. Durch den Regenschleier sah sie eine dunkle Silhouette im Kapuzenumhang. Sie sträubte sich mit aller Kraft gegen den Griff. »Was wollt Ihr, Herr? Ich bin…«
»Ein närrisches Geschöpf! Wo ist das Haus, in dem du wohnst?«
Die Stimme! Selbst bei Donner, Blitz und Regenrauschen erkannte Ysée sie. Wie versteinert blieb sie stehen. Sie merkten beide nicht, dass sie mitten in der Gasse verharrten. Sie sahen sich an. Aufgewühlt und ungläubig. Der eine im Umhang des Goldschmieds, der andere als Gassenjunge verkleidet.
Z WÖLFTES K APITEL
Verdacht
M ATHIEU VON A NDRIEU
Paris, Rue des Ursins, 11. Mai 1310
Mathieu schwang sich über die Mauer in den kleinen Hof des Hauses. Bei so viel Blitz und Donner zündeten die Pariser eine Kerze an und duckten sich unter ihre Dächer, keine Menschenseele war unterwegs. Die Küche fand Mathieu leer vor.
Er atmete erleichtert auf und zog sein tropfnasses Wams über den Kopf. Das Hemd darunter war ebenfalls nass, dennoch ließ er es an. Dann nahm er auf dem Hocker Platz und zerrte an seinen kniehohen Lederstiefeln. Sie quietschten vor Feuchtigkeit und klebten wie Pech an seinen Füßen.
Als er die Zehen frei bewegen konnte, strich er sich mit allen zehn Fingern durch die feuchte Mähne und gestattete sich eine Atempause.
Im selben Augenblick vernahm er eine Stimme, die ihn innehalten ließ.
»Wie kann Mathieu es erlauben, dass du dich auf solch törichte Weise in Gefahr bringst? Warum läufst du als Gassenjunge durch die Straßen von Paris?«
»Es sind die Kleider, die Ihr für mich gewählt habt, als ich Brügge verlassen sollte«, hörte er Ysée antworten.
»Das war eine Verkleidung, um deine Flucht zu ermöglichen.« Mathieu sprang hoch und
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