Bei Tag und bei Nacht
gut sie das kann! dachte er zornig. Wieder die Von-oben-herab-Tour. »Sie befinden sich aber auf meinem Privatgrundstück.«
»Hm.«
Wenn sie aufsteht, kann ich ihr herunterhelfen. Die Idee gefiel ihm. »Hier ist das Betreten verboten.«
Gennie warf ihm einen nachsichtigen Blick zu. »Sie sollten es mit Stacheldraht und mit Landminen versuchen. Es geht nichts über eine kräftige Explosion, um solch ein Verbot durchzusetzen. Allerdings kann ich es Ihnen nicht verdenken, dass Sie dieses Stück Erde für sich haben wollen, Grant«, fügte sie hinzu und zeichnete weiter. »Ich werde bestimmt nichts verändern und weder Dosen noch Papiertüten oder Zigarettenkippen zurücklassen.«
Trotz des Rauschens der Wellen war ihr herablassender, betont geduldiger Tonfall nicht zu überhören. So etwas ging schon auf die Nerven. Grant war fast so weit, Gennie bei den Haaren zu packen und sie auf die Füße zu stellen. Aber das rasche Hin-und-Her ihres Stiftes auf dem Zeichenpapier erregte sein Interesse.
Das war mehr als gut. Es war ausgezeichnet. Mit Strichen und Schattierungen hatte sie den Wirbel der Wellen am Klippenrand, den flachen Flug der Möwen und die beständige Dauerhaftigkeit des Leuchtturmes festgehalten. Die Skizze zeigte keine schmeichelhaften Hinweise auf Schönheit, sondern die eckigen Kanten und die Risse der Felsen, aber auch den Kampf der See gegen das Land. Für ein Ansichtskartenbild oder als beruhigender Blickfang über dem Kamin war es nicht geeignet. Doch jeder, der einmal vor stürmischem Meer an einer Felsenküste gestanden hatte, wäre begeistert.
Mit gerunzelter Stirn beugte Grant sich vor. Sein Ärger war konzentriertem Interesse gewichen. Gennie war weder Schülerin noch Amateur. Er wartete ruhig, bis sie ihre Arbeit beendet hatte. Dann nahm er ihr den Skizzenblock aus der Hand und betrachtete ihn intensiv.
»Hey!«, protestierte Gennie und fuhr hoch.
»Halten Sie den Mund.«
Gennie gehorchte. Aber nur deshalb, weil Grant offensichtlich nicht die Absicht hatte, sie ins Wasser zu werfen. Sie setzte sich wieder und beobachtete schweigend, wie Grant die einzelnen Zeichenblätter betrachtete. Manche Seiten schienen ihn sehr zu fesseln, anderen galt nur ein flüchtiger Blick.
Seine Augen wurden ganz dunkel, und der Wind blies ihm das Haar aus der Stirn. Mit ernstem Gesichtsausdruck begutachtete er kritisch Gennies Arbeiten. Es hätte sie eigentlich amüsieren müssen, dass ein einsam lebender Fischer ihre Arbeit beurteilte. Doch der leichte Druck hinter den Schläfen zeigte, dass sie ungeduldig und gespannt seine Äußerung erwartete. So war es ihr oft vor der Eröffnung einer Ausstellung gegangen.
Grant schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. Einen Moment lang hörte man nur das Tosen der Brandung und aus der Ferne den Klang einer Schiffssirene. Grant wusste jetzt, woher das Gefühl stammte, Gennie schon früher gesehen zu haben. Aber die Fotos in den Zeitungen wurden ihr nicht gerecht. »Grandeau«, sagte er schließlich, »Genevieve Grandeau.«
Normalerweise war Gennie nicht überrascht, wenn jemand in New York, Kalifornien oder Atlanta ihre Bilder oder ihren Namen kannte. Doch es war verblüffend, in dieser Gegend einen Menschen zu treffen, der sie ausschließlich durch Betrachtung roher Skizzen auf ihrem Zeichenblock erkannte.
Gennie erhob sich, strich das Haar zurück und hielt es fest. »Woher kennen Sie mich?«
Er klopfte mit dem Block auf die Handfläche und sah sie unverwandt an. »Technik bleibt Technik, ob es sich um Skizzen handelt oder um Öl. Was treibt die Perle von New Orleans nach Windy Point?«
Der Ton seiner Frage ärgerte Gennie. Sie vergaß darüber, mit welcher Leichtigkeit er ihren Stil erkannt hatte. »Ich habe ein Jahr Urlaub genommen.« Sie streckte die Hand nach ihrem Block aus.
Grant übersah die Bewegung. »Ein merkwürdiger Ort für des Landes berühmteste … Künstlerin. Ihre Bilder wurden in den Zeitschriften beinahe so oft erwähnt wie Ihr Name in den Gesellschaftsspalten. Sind Sie nicht im letzten Jahr mit einem italienischen Grafen verlobt gewesen?«
»Es war ein Baron«, verbesserte Gennie ihn kühl, »und wir waren nicht verlobt. Nutzen Sie Ihre Pausen zwischen dem Fischfang damit, die Revolverblätter zu lesen?«
Der Anflug von Gereiztheit in ihren Augen gefiel ihm. »Ich lese eine ganze Menge. Und Sie«, fügte er hinzu, noch bevor Gennie für eine Entgegnung Zeit hatte, »bringen es fertig, genauso oft in der ›New York Times‹ zu erscheinen
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