Bei Tag und bei Nacht
beiden hörte die alte Uhr, die irgendwo im Haus mit mächtigen Schlägen die Stunden anzeigte. Aus spielerischen Liebkosungen wurde nur zu schnell stürmische Leidenschaft, die sie von einem Gipfel zum anderen hob, bis sie schließlich erschöpft und befriedigt nebeneinander einschliefen.
Die Luft war mild, eine weiche Brise wehte angenehm kühl bei strahlend heller Sommersonne – einer der seltenen perfekten Tage. Gennie kostete nur vom reichhaltigen Frühstücksbüfett, Grant dagegen aß für zwei. Dann verzog er sich, murmelte etwas von einem Pokerspiel, und Gennie blieb sich selbst überlassen. Frohgemut suchte sie ihr Werkzeug zusammen und lief ins Freie.
Zuerst sollte das Haus aus dem Blickwinkel erstehen, wie es sich von der Auffahrt her darbot. Gennie zwängte sich zwischen dornigen Rosenbüschen hindurch und setzte sich auf den Rasen neben der alten Kastanie. Gennie arbeitete, kam gut voran und fühlte sich rundherum glücklich, als plötzlich Shelby neben ihr stand.
»Guten Morgen! Störe ich dich?«
»Nein.« Gennie ließ das Skizzenbuch sinken. »Ich würde hier nie wieder aufhören, wenn mich nicht jemand bremst.«
Mit der gleichen Geschmeidigkeit wie Grant ließ Shelby sich neben Gennie ins Gras fallen. Interessiert betrachtete sie das Blatt. »Du und Grant, ihr habt eine Menge gemeinsam.«
Die Bemerkung gefiel Gennie. »Er ist sehr talentiert, nicht wahr? Natürlich kann ich das nicht richtig beurteilen, ich habe bisher nur eine Karikatur von ihm gesehen, aber sein Talent war offensichtlich. Warum nützt er es nicht aus?«
Das war eine direkte Frage, und beide wussten es. Aber gleichzeitig wurde Shelby klar, dass Grant sich Gennie noch nicht anvertraut hatte, obwohl er sie offensichtlich liebte. Warum zum Teufel benahm er sich wie ein dickköpfiger Esel? Aber die Loyalität dem Bruder gegenüber gewann die Oberhand. »Grant hat immer nur gemacht, was ihm gerade passte. Kennt ihr euch schon lange?«
»Eigentlich nicht. Erst seit ein paar Wochen.« Gennie pflückte einen Grashalm und drehte ihn um den Finger. »In einer Sturmnacht hatte ich eine Panne und sah zufällig Licht in seinem Turm.« Sie lachte in sich hinein, als sie sich Grants Gesicht in Erinnerung rief. »Er war nicht allzu erfreut, mich auf seiner Türschwelle zu sehen.«
»Du meinst, dass er grob war, sauer und unmöglich.« Shelby lächelte breit. »Verändern wird er sich nie, aber er ist verrückt nach dir.«
»Ich weiß nicht, wer von uns beiden mehr schockiert ist darüber – er oder ich …« Gennie wusste, dass sie nicht allzu neugierig sein durfte, aber sie wollte mehr über Grant erfahren, um ihn besser verstehen zu können. »Wie war er als Junge?«
Shelby blickte sinnend auf zu den Wolken, die als weiße Tupfer über den Himmel wanderten. »Grant war gern und viel allein. Gelegentlich tolerierte er mich, wenn ich ihn aufstöberte. Er war schon immer Menschen zugetan, aber es geschah auf seine sehr eigene Weise.«
Shelby dachte an ihre Kinderzeit, die Sicherheitsvorschriften, die Wahlreisen und die Presse. Durch ihren Mann Alan war sie wieder in das quirlige, rastlose Leben hineingeraten. Sie seufzte leise.
»Grant hatte ein aufbrausendes Temperament, feste Ansichten darüber, was falsch und was richtig war – bei ihm selbst und bei der Gesellschaft im Allgemeinen. Trotzdem war er umgänglich und freundlich – meistens jedenfalls – als älterer Bruder.«
Gennie beobachtete Shelby, die äußerlich so wenig mit Grant gemeinsam hatte. »Grant ist aufnahmebereit für Liebe und Freundlichkeit«, fuhr Shelby fort, »aber er verteilt sie nur spärlich. Er mag es nicht, von jemandem abhängig zu sein.« Sie zögerte, dann sah sie in Gennies klares Gesicht mit den ausdrucksvollen Augen und fand, dass sie ihr einen Einblick geben sollte. »Wir haben unseren Vater verloren. Grant war siebzehn, kein Junge mehr und noch kein Mann. Es hat uns fast zerstört. Als er getötet wurde, sind wir beide dabei gewesen.«
Gennie schloss die Augen, dachte an Grant und erinnerte sich an Angela. »Wie wurde er getötet?«
»Das sollte Grant dir erzählen«, antwortete Shelby ruhig.
»Ja«, Gennie öffnete die Augen, »das sollte er.«
Um die traurige Stimmung zu verjagen, griff Shelby nach Gennies Hand. »Du tust ihm gut, das sah ich sofort. Bist du ein geduldiger Mensch, Gennie?«
»Ich bin mir nicht mehr sicher.«
»Sei nicht zu geduldig«, riet Shelby ihr mit einem Lächeln. »Grant braucht gelegentlich einen recht kräftigen
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