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Beim Leben meiner Schwester

Titel: Beim Leben meiner Schwester Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Jeden Tag aufs neue.«
    Â»Okay«, sagt Brian. Er klatscht in die Hände, wie ein Footballspieler, ehe er auf den Platz läuft. »Okay.«
    Kate nimmt den Kopf von meiner Bluse. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Miene argwöhnisch.
    Hier liegt ein Fehler vor. Die Ärztin hat die Blutprobe von jemand anderem untersucht. Seht euch doch meine Tochter an, ihre glänzenden weichen Locken und ihr zartes Lächeln – so sieht doch kein Mensch aus, der langsam stirbt.
    Ich hab sie erst seit zwei Jahren. Aber wenn ich alle Erinnerungen, alle Augenblicke nehmen und aneinanderfügen würde, sie würden endlos weit reichen.
    Sie rollen ein Laken zusammen und legen es Kate unter den Bauch. Sie schnallen sie mit zwei langen Bändern am Untersuchungstisch fest. Eine Krankenschwester streichelt Kate die Hand, auch noch als die Narkosewirkung eingesetzt hat und sie schläft. Ihr unterer Rücken ist entblößt für die lange Nadel, die ihr aus dem Beckenkamm Knochenmark ziehen soll.
    Als sie Kates Gesicht sanft zur Seite drehen, ist das Papiertuch unter ihrer Wange feucht. Meine Tochter lehrt mich, daß man zum Weinen nicht wach sein muß. Auf der Fahrt nach Hause überkommt mich plötzlich die Vorstellung, daß die Welt aufblasbar ist – Bäume und Gras und Häuser würden durch einen einzigen Nadelstich in sich zusammensacken. Ich habe das Gefühl, wenn ich den Wagen nach links steuern und gegen den Jägerzaun des Kinderspielplatzes lenken würde, würden wir zurückfedern wie von einer Gummistoßstange.
    Kate sitzt in ihrem Kindersitz und ißt Kinderkekse in Tierform. »Spielen«, befiehlt sie.
    Im Rückspiegel ist ihr Gesicht strahlend. Gegenstände sind näher, als sie scheinen . Ich sehe, wie sie den ersten Keks hochhält. »Wie macht der Tiger?« bringe ich heraus.
    Â»Rrroaaaa.« Sie beißt ihm den Kopf ab, schwenkt dann wieder einen Keks.
    Â»Wie macht der Elefant?«
    Kate kichert, trompetet dann durch die Nase.
    Ich frage mich, ob es passieren wird, wenn sie schläft. Oder ob sie weinen wird. Ob irgendeine Krankenschwester da sein wird, die ihr was gegen die Schmerzen gibt. Ich stelle mir vor, wie mein Kind stirbt, während sie glücklich und lachend hinter mir sitzt.
    Â»Wie Giraffe?« fragt Kate. »Giraffe?«
    Ihre Stimme, sie ist so voller Zukunft. »Giraffen machen nichts«, antworte ich.
    Â»Wieso?«
    Â»Weil sie so geboren werden«, erwidere ich, und dann schwillt mir die Kehle zu.
    Das Telefon klingelt, als ich von der Nachbarin zurückkomme, die netterweise auf Jesse aufpaßt, während wir uns um Kate kümmern. Wir haben für diese Situation kein Protokoll. Unsere einzigen Babysitter sind noch auf der High School. Alle vier Großeltern sind gestorben. Wir haben uns nie um Tagesmütter und dergleichen bemüht – für die Kinder bin ich zuständig.
    Als ich in die Küche komme, telefoniert Brian. »Ja«, sagt er, »kaum zu glauben. Ich hab’s in dieser Saison noch zu keinem Spiel geschafft … wozu auch, wo sie ihn verkauft haben.« Unsere Blicke treffen sich, als ich Teewasser aufsetze. »Oh, Sara geht’s gut. Und den Kindern, ähm, denen auch. Alles klar. Grüß Lucy von mir. Danke für den Anruf, Don.« Er legt auf. »Don Thurman«, erklärt er. »Von der Feuerwehrschule, weißt du noch? Netter Kerl.«
    Als er mich anschaut, fällt ihm das herzliche Lächeln vom Gesicht. Der Kessel pfeift los, doch keiner von uns beiden macht Anstalten, ihn von der Herdplatte zu nehmen. Ich blicke Brian an, verschränke die Arme.
    Â»Ich konnte es nicht«, sagt er leise. »Sara, ich konnte es einfach nicht.«
    Am Abend im Bett ist Brian ein Obelisk, eine von den Formen, die die Dunkelheit durchbrechen. Wir haben seit Stunden kein Wort gewechselt, aber ich weiß, daß auch er hellwach ist.
    Das hier passiert, weil ich Jesse letzte Woche, gestern, gerade eben noch angeschrien habe. Es passiert, weil ich Kate nicht die M&Ms gekauft habe, die sie im Supermarkt haben wollte. Es passiert, weil ich mich ein einziges Mal, den Bruchteil einer Sekunde lang, gefragt habe, wie mein Leben wäre, wenn ich keine Kinder hätte. Es passiert, weil mir nicht klar war, wie gut ich es habe.
    Â»Glaubst du, wir sind schuld?« fragt Brian.
    Â»Schuld?« Ich drehe mich zu ihm um. »Wodurch?«
    Â»Na, durch unsere Gene. Du weißt

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