Beinah auf den ersten Blick: Roman (German Edition)
sie hätte kein Gewissen. Das Leben wäre so viel einfacher, wenn sie jetzt einfach in ihr Haus tänzeln könnte, ohne alle Gewissensbisse. Aber das brachte sie nicht über sich. Langsam ging sie über die Straße, blinzelte die Schneeflocken aus den Augen und bewegte die bereits eiskalten Finger. Als sie sich dem Auto näherte, hörte die Frau auf, den Schlüssel im Zündschloss zu drehen. Sie sah zu Cleo, wartete auf sie.
O nein, bitte nein, das durfte nicht wahr sein. Cleos Herz sprang ihr in einem Satz bis in den Hals, als sie dem Blick der Frau begegnete und sie das Wiedererkennen wie ein Schlag mit einem Ziegelstein traf. Das war Wills Ehefrau – großer Gott, seine Ehefrau! –, hier in Channings Hill, und sie parkte weniger als fünfzig Meter von ihrem Haus entfernt.
Also gut, hatte Will seiner Frau von ihr erzählt? War sie hier, um sie zur Rede zu stellen? Oder war das … bitte, lieber Gott … einfach ein absolut bizarrer Zufall? Und wusste sie, mit wem sie gleich sprechen würde? Cleo hatte sie erkannt, weil sie vierzig Minuten hinter ihr in der Schlange vor der Weihnachtsmannhütte angestanden hatte, aber Wills Frau würde sich sicher nicht an sie erinnern. Das war unmöglich.
Das hieß, es bestand noch eine winzig kleine Chance, dass sie nicht wusste, wer da im Schnee neben ihrem Auto stand.
Die Frau ließ die Scheibe an der Fahrerseite herunter. Sie hatte eine schöne Haut, riesige, bernsteinfarbene Augen und glänzendes, goldbraunes Haar, das – nach hinten gebunden – das ovale Gesicht und außergewöhnlich hübsche Ohren freilegte. Die dummen Sachen, die man bemerkt, wenn man unter Schock steht …
»Hallo, äh, haben Sie ein Problem mit dem Wagen?« Cleo war sich noch nie so lächerlich britisch vorgekommen. Sie klang schneidig und wie aus einem Film der 1950er Jahre. Außerdem war es eine vollkommen idiotische Frage.
»Äh, ja. Ich weiß nicht, was los ist. Er … will einfach nicht.«
War das eine Andeutung dessen, was kommen würde? Tja, wenigstens hatte sie keine Anschuldigungen gebrüllt und war auch nicht aus dem Wagen gesprungen, um auf sie einzuprügeln.
Mit trockenem Mund sagte Cleo: »Ich könnte Sie anschieben, wenn Sie wollen. Vielleicht springt der Motor hügelabwärts von allein an.«
Wills Frau starrte sie immer noch intensiv an, als sei sie sich nicht sicher, ob Cleo diejenige war oder nicht. Außerdem zitterte sie.
»Na schön, versuchen wir es. Danke.«
»Kein Problem.« Cleo schulterte ihre Tasche, stemmte sich gegen die Rückseite des Fiesta und drückte mit aller Kraft. Sie war stark, sie schaffte das … heeeeebt an …
Nichts. Der Wagen bewegte sich keinen Millimeter. Cleo brach ab und ging um das Auto herum zu Wills Frau. »Sie müssen die Handbremse lösen.«
»Oh, tut mir leid.«
Sie versuchten es erneut. Dieses Mal rollte der Wagen langsam nach vorn. Cleo drückte mit aller Kraft und dann noch fester und brüllte: »Versuchen Sie es noch mal!« Aber der Motor wollte nicht anspringen und sie verloren an Schwung. Na toll, jetzt stand der Wagen direkt vor ihrem Cottage, was noch schlimmer war.
»Einen Moment, ich habe ein Enteisungsmittel.« Cleo holte die Dose aus dem Mercedes, öffnete die Motorhaube des Fiesta und sprühte alles ein.
Immer noch kein Erfolg. Mittlerweile schienen ihre Hände taub, ihre Nase war rot und biss vor Kälte.
»Oh, tja, danke, dass Sie es versucht haben.« Die Zähne der Frau klapperten vor Kälte. »Ich rufe wohl besser die Pannenhilfe an.«
Sie zog ihr Handy heraus. Cleo stand reglos neben dem Wagen und lauschte dem kurzen Wortwechsel am Handy. Schließlich legte Wills Frau auf. »Sie haben haufenweise Anrufe bekommen. Es dauert mindestens eine Stunde, bevor jemand kommen kann.« Sie zitterte. »Typisch.«
Neiiiin, auch das noch! Cleo schluckte schwer. Diese Situation war völlig daneben. Sie wusste, wer diese Frau war, und vermutete, dass diese Frau auch wusste, wer sie war, und doch sprach keine von beiden es aus, und sie würde ganz sicher nicht den ersten Schritt machen, weil … tja, was, wenn Wills Frau es doch nicht wusste?
Aber die Sache war die, wenn irgendwer anderes in dieser Eiseskälte mit einem defekten Auto hier gestrandet wäre, würde sie nicht lange nachdenken und ihn in ihr Haus bitten.
Was bedeutete, sie würde Wills Frau hereinbitten müssen, denn sonst wirkte es bestimmt verdächtig, und alles flog auf, und es wäre für Wills Frau mehr als offensichtlich, dass sie diejenige sein
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