Beiss mich - Roman
Eckzähne mit traumwandlerischer Zielsicherheit in ihre Halsvenen. Ich wusste genau, wie viel Druck ich ausüben musste, um an den göttlichen Nektar zu kommen.
Da! Ihre runzlige Haut platzte auf wie die Hülle einer Weintraube, und ich keuchte wie besessen in Erwartung des dünnen Stroms, der sich gleich über meine Zunge ergießen würde.
Doch dazu kam es nicht, denn im nächsten Moment geschah zweierlei: Der Aufzug hielt erneut an, und Frau Herberich nutzte die Millisekunde meines Erschreckens, um mit der verzweifelten Wut einer aufgescheuchten Wildsau ihre künstlichen Hauer in meinen Handteller zu graben. Sie biss so hart zu, dass ich den Knochen knirschen hörte. Und sie hielt fest.
Ich prallte mit bluttriefenden Zähnen zurück und sah meine Hand zwischen ihren Kiefern klemmen. Aus den beiden winzigen Löchern in ihrem Hals perlten zwei winzige, köstlich rote Tropfen … Ich schloss die Augen und stöhnte. Dann öffnete ich sie wieder.
Frau Herberich machte keine Anstalten, ihren Biss zu lockern, sondern schaute mich über meine Hand hinweg boshaft schielend an.
Mit aller Kraft entriss ich ihr meine schmerzende Rechte und ließ einen ordentlichen Fetzen Fleisch zurück.
Die Tür des Aufzugs ging auf, und ich fuhr herum, während ich mir die heftig blutende Hand rieb. Doch auch hier wartete niemand.
Wir waren im Keller gelandet. Frau Herberich hatte wohl den falschen Knopf gedrückt. Ich hätte sie jetzt packen, in den Heizungskeller zerren und dort weitermachen können. Die Kraft dazu besaß ich, das spürte ich. Ich war viel stärker als sie. Sie hatte mich vorhin überrascht, das war alles. Wenn es darauf ankam, würde ich ihren Widerstand brechen wie den eines flatternden kleinen Vogels.
Der Augenblick der Entscheidung zog sich in die Länge wie der Blutstropfen, der in Zeitlupe vom Hals der alten Scharteke herabrollte, sich löste und auf dem Kabinenboden landete. Ein Paukenschlag hätte nicht ohrenbetäubender klingen können als das Aufplatschen dieses kleinen Tropfens.
Der Moment dehnte sich zur Ewigkeit, und ich verstand erstmals, wie dünn der Grat zwischen Wunsch und Wirklichkeit tatsächlich war.
Mit einem Aufschluchzen sprang ich aus der Kabine, hieb wahllos auf die Knöpfe neben der Tür und wich zur Seite, während der Aufzug sich schloss und nach oben fuhr. Frau Herberich hörte unterdessen nicht auf, zu lamentieren, während der Fahrstuhl sich entfernte. Sie hätte mir ebenso gut direkt ins Ohr kreischen können, so laut erschien es mir.
»Nix als Schnaps und Drogen! Immer auf die Alten! Aber nicht mit mir! Der habe ich’s gezeigt, der kleinen Nutte!«
Ich war außer mir vor Entsetzen. Was hatte ich getan! Um ein Haar hätte ich einer harmlosen alten Frau Blut abgezapft! In einem Aufzug, also quasi in einem öffentlichen Verkehrsmittel! Was war nur über mich gekommen!
Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Wand und sackte zu Boden. Wenn das so weiterging, war ich geliefert! Mit Entsetzen begriff ich, dass ich diesen Trieb nicht mehr unter Kontrolle hatte. Wenn es noch einmal passierte, würde ich wieder zubeißen, aber dann richtig. Daran führte kein Weg vorbei. Mein Körper brauchte das Blut, und er würde es sich holen, egal, wo oder bei wem. Als Nächstes würde mich der Blutdurst vielleicht mitten in der Stadt übermannen! In der Straßenbahn, im Kino – sollte ich jemals wieder eins besuchen – im Schwimmbad, im Kaufhaus … Es war nicht auszudenken!
Ob die Herberich mich anzeigen würde? Diese zusätzliche Sorge vertiefte mein Elend noch.
Zusammengekrümmt hockte ich auf dem kalten, zugigen Kellerboden, die Arme um mich geschlungen, und weinte leise vor mich hin. Irgendwann rappelte ich mich hoch. Mir war kalt. Da ich nun schon hier unten war, beschloss ich, mir aus dem Waschkeller einen Pulli zu holen. Am Vorabend hatte ich ein paar Teile in den Trockner gesteckt, die ich gleich mit nach oben nehmen konnte.
Ich rieb mir Tränen und Blut aus dem Gesicht und betastete mit der Zunge meine Eckzähne, die jetzt wieder klein waren. Dafür war der Draht inzwischen so locker, dass mir ein Ende davon aus dem Mund hing. Es war ein scheußliches Gefühl.
*
Sie waren zu dritt. Den Waschkeller hatten sie vermutlich für diese besondere Art der Zusammenkunft gewählt, weil es hier wärmer war als in den übrigen Kellerräumen.
Sie standen um den Trockner herum, auf dem ein aufgeklappter Koffer lag. Ich konnte nicht sehen, was in dem Koffer war, weil einer der drei ihn
Weitere Kostenlose Bücher