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Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Gilvarry
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hat er dafür gesorgt, dass mir in meiner Zelle stets Stift und Papier zur Verfügung stehen. Wer weiß, wann ich einen klaren Moment habe?
    Es wundert mich, dass mein Vernehmer so viel Verständnis für meine Situation hat. Warum ist er so zu mir? Vielleicht weil er selber einer machtlosen Minderheit angehört. (Mein Special Agent ist Grieche. Er wird hier Spyro genannt.) 15
    »Darf ich ehrlich sein?«, fragte mein Grieche heute. »Ich glaube, Sie wissen mehr, als Sie zu wissen glauben.«
    Er ist ein stattlicher Mann, mein Vernehmer, mit einem Faible für teure Anzüge. Offensichtlich hat er Ahnung von Herrenmode, deshalb muss ich daran denken, mich so detailliert wie möglich zu erinnern, wenn ich von meinen Ausflügen mit Ahmed Qureshi auf dieses Gebiet berichte. Das Stirnhaar meines Griechen ist größtenteils verschwunden, und die wenigen schwarzen Locken, die er vorn noch hat, kräuseln sich zu einem kleinen Flecken in der Form des italienischen Stiefels zusammen. Zufällig hat er auch genau da, wo Malta im Mittelmeer treibt, eine Sommersprosse. »Einige Dinge sind so tief in unserem Gedächtnis vergraben, dass wir sie nicht mehr erkennen«, fuhr er fort. »Stimmen Sie mir da zu?«
    »Wie bitte?«
    »Kennen Sie Dostojewski?«
    »Ich habe ihn nie getroffen«, antwortete ich.
    »Sicher nicht. Er ist tot«, sagte Spyro.
    Jetzt kam ich mir ziemlich ungebildet vor. Natürlich hatte ich von Dostojewski gehört. Aufzeichnungen aus dem Kellerloch , Die Brüder Karamasow und das eine über diesen Idioten, dessen Titel mir gerade nicht einfällt. 16
    »Sie beide haben vieles gemeinsam«, sagte Spyro. »Er kam auch ins Gefängnis.«
    »Glück für ihn.«
    Mein Vernehmer ist total russophil und redet endlos über Dostojewski und Tolstoi, als wären es die größten Denker der Welt. Einmal erwähnte er sogar seine Bewunderung für die Musik von Chai Koffsky. 17 Ich finde es eigenartig, dass ein amerikanischer Ermittler (griechischer Herkunft, aber trotzdem) sich so für alles Russische begeistert. Wobei ich zugeben muss, dass ich manche russischen Exporte selbst bewundere, besonders Alexandre Plokhov. 18 Seine scharfen Militäroutfits haben sowohl meine Entwürfe als auch meinen eigenen Stil ziemlich beeinflusst. Ich erinnere mich noch an seinen Store auf der Greene Street mit den schmalen Gothic-Verkäufern und ihren kantigen Frisuren.
    »Wissen Sie, was Dostojewski einmal gesagt hat?«, fuhr er fort. »Er hat gesagt, dass es in der Erinnerung jedes Menschen Dinge gibt, die preiszugeben er sich nicht traut, nicht einmal vor sich selbst. Und er meinte, es könne sogar sein, dass die Anhäufung jener Erinnerungen umso beträchtlicher ist, je ehrbarer der Mensch ist.« Mein Vernehmer blickte hinab auf seine handgenähten Schuhe. Wieder sah ich den Haarflecken auf seiner breiten Stirn, den italienischen Stiefel. »Als Kind habe ich einmal einen Stein gegen ein Haus geworfen«, sagte er. »Einfach so.«
    Ein Geständnis. »Auf den griechischen Inseln?«, fragte ich.
    »In Perth Amboy, New Jersey«, sagte er. »Es spielt keine Rolle, wo. Ich habe eine Fensterscheibe eingeworfen. Das wollte ich nicht. Mein Bruder war dabei. Eigentlich wollten wir nur die Hauswand treffen. Wir kannten den Mann, dem das Haus gehörte, er war unser Nachbar. Ich hatte nichts gegen ihn. Es ging eigentlich gar nicht um ihn. Wir wollten einfach nur einen Stein an ein Haus werfen, einfach so. Danach kam der Mann zu uns herüber und erzählte es meinem Vater. Er sagte, er hätte mich dabei beobachtet. Er konfrontierte mich vor meinem Vater damit. Natürlich stritt ich es ab. Ich log. Ich musste. Ich schämte mich zu sehr, weil ich ja noch nicht einmal wusste, warum ich es getan hatte. Ich konnte mein Handeln nicht erklären. Ich hatte den Stein an das Haus geworfen, einfach nur weil es da stand. Manchmal gibt es keinen Grund.«
    Mein Vernehmer zog ein Taschentuch aus der Hose und tupfte sich die Stirn ab. Der Raum war klimatisiert, aber wegen seines Übergewichts schwitzte Spyro stark.
    »Verzeihen Sie«, sagte er. »Ich habe diese Geschichte von hinten begonnen. Das Gedächtnis funktioniert manchmal rückwärts, nicht wahr?«
    Ich antwortete nicht.
    »Jedenfalls erinnerte mich mein Bruder letztes Jahr Weihnachten an diesen Vorfall. ›Weißt du nicht mehr, wie du den Stein an das Haus geworfen hast?‹, fragte er. Und ich erwiderte: ›Welchen Stein?‹ Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Ehrlich, ich konnte mich nicht daran erinnern. Er erzählte

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