Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
mir die ganze Geschichte aus seiner Sicht. Und wieder hatte ich keine Erinnerung daran. Ich glaubte nicht, dassmein eigener Bruder sie sich ausgedacht hatte, aber ich war überzeugt, dass er mich mit einem seiner damaligen Freunde verwechselte. Ich ließ die Sache auf sich beruhen, ohne ihn zu kränken, aber die Geschichte ging mir aus irgendeinem Grund nicht aus dem Kopf. Und dann, einige Zeit nach Neujahr, fiel es mir wieder ein. Ich erinnerte mich. Der Stein in meiner Hand. Der Wurf über die Straße. Das Klirren der Fensterscheibe. Das Lachen meines Bruders. Ich erinnerte mich sogar an die genaue Tageszeit. An das Gesicht meines Vaters, als ich ihm schwor, ich sei es nicht gewesen. Ich weiß nicht mehr, wo mir das alles einfiel – vielleicht im Büro oder bei irgendeinem Termin –, aber mein Gesicht brannte plötzlich vor Scham.« Spyro stand auf und zog sein Sakko aus. Dann setzte er sich wieder, knöpfte die Ärmel auf und krempelte sie hoch. Über seinen ganzen linken Unterarm verlief eine lange Narbe. »Wissen Sie, unsere Neigung, uns unter unangenehmen Umständen in ein besseres Licht zu rücken, kann überwältigend sein. Sie kann uns dazu bringen, zu vergessen. Mich interessiert am meisten, ob es irgendetwas gibt, das Sie vergessen haben.«
An diesem Punkt beendeten wir die Sitzung für den Tag. Ich bekam die Anweisung, in meine Zelle zurückzugehen und zu überlegen, was ich alles vergessen haben könnte. Win erkundigte sich, wie es mit meinem Griechen gelaufen sei. »Bestens«, sagte ich ihm. Spyro ist offenbar darauf bedacht, meinem Geständnis etwas nachzuhelfen. In gewisser Weise will er dasselbe wie ich. Das Ganze hier so schnell wie möglich über die Bühne bringen. Dass mein Bekenntnis als Beweismittel vorgelegt wird und das Verfahren gegen mich anläuft.
Dabei ist es gerade das Vergessen, nicht das aktive Erinnern, das mich nach drei Wochen im Niemandsland am Leben hält. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht zu vergessenversuche, wo ich bin. Dass mir das schwerfällt, liegt nicht an den Wachen, sondern an den anderen Gefangenen. Sie beten fünfmal am Tag. Bei Sonnenaufgang geht es los, das müssen Sie sich mal vorstellen! Während der Gebetszeit setze ich mich oft im Bett auf, schließe die Augen und versetze mich zurück in mein altes Leben. Auf eine Fashion Week in New York City im Herbst. In die weißen Zelte auf dem Rasen des Bryant Park. Ich schiebe die Segeltuchklappen beiseite und wage mich hinein, vorbei an den Eisskulpturen weiblicher Torsos – glänzende Nippel schmelzen über Avocadoröllchen, durchscheinende Schamlippen tropfen auf Berge von eingelegtem Ingwer. Ich schlängele mich durch das Labyrinth der Laufstege, vorbei an der Blitzlichtmeute, und schlüpfe durch einen einladenden Satinvorhang. Um den Hals trage ich einen VIP-Ausweis: Designer. Backstage herrscht eine andere Art von Geschäftigkeit, die der Crew, die sich abzappelt, um die Show auf die Beine zu stellen. Stylisten schminken und frisieren die Models – so viele, dass man sie gar nicht mehr zählen kann. Schneiden, wellen, föhnen, glätten, zupfen, sprühen. Ich rufe das Gesicht jedes einzelnen Models aus meiner Vergangenheit vor dem inneren Auge auf. Olya und Dasha, Irina, Katrina, Marijka, Kasha, Masha – ihre weiße, engelsgleiche Mädchenhaut im Kontrast zu jenem markanten osteuropäischen Knochenbau. Ich atme das Treibgas von Haarspray ein, hebe vom Boden ab und steige über dem Backstage-Modezirkus auf, bis ich an die kissenartige Zeltdecke stoße. Ich halte den Atem an und schwebe wie im siebten Himmel über einem Meer aus nackten Ärschen, Strings und Haaren, und da, sieh mal! Catherine Malandrino! Bonsoir, Catherine! Beim Ausatmen dann der freie Fall, und ich lande sicher in einem Haufen Miu-Miu-Handtaschen.
Augen auf, und ich liege noch immer auf meiner dünnen Gummimatte.
Im Gegensatz zu einer von Spyros verdrängten Erinnerung kann ich mir diese Zelle nicht einfach wegdenken, oder? Und ich bezweifle auch, dass ich die Erinnerung an diesen Ort wieder loswerde, falls ich je hier rauskomme und falls ich meine gedachten Gedanken je plausibel ordnen kann. Allein die Geräusche werden auf ewig in meinem Kopf rattern. Das Windspiel des Nato-Drahts draußen. Hunde. Hundegebell aus den anderen Camps. Ratten, die unter unseren Zellen herumflitzen. Mitten in der Nacht werden Männer zu Reservierungen gebracht, und ihre Ketten schleifen rasselnd über den Metallboden. Natürlich schreckt der ganze Zellenblock
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