Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Straße. Ich war zusammen mit Millionen anderen da, weil es ein Ereignis war, an dem ich teilhaben wollte, und weil Michelle mich gebeten hatte mitzukommen. Ich hörte den Sprechchören zu, stimmte mit ein und fotografierte die selbstgemalten Transparente, aber ich war nur in zweiter Linie um der Sache willen da.
Win war 2003 gerade mal sechzehn und im zweiten Highschool-Jahr. Er war Läufer und spielte im Juniorteam seiner Schule Basketball. Ungefähr zu der Zeit, als ich die First Avenue entlangmarschierte und mit den Massen auf das UN-Hauptquartier zusteuerte, saß Win in Fort Worth in einem Klassenzimmer, schrieb Mathematikgleichungen von einer Tafel ab und berechnete die Wahrscheinlichkeit von irgendetwas Belanglosem. Vielleicht stand er dem Krieg genauso zwiespältig gegenüber wie ich, was es für mich umso peinlicher macht, weil ich so viel näher an der Operation Öl-Bluff 27 dran war als er.
Win tat meine Komplimente ab. Es war ihm offenbar unangenehm, so etwas zu hören. Aber wir hatten einen bedeutungsvollen Austausch zu meinem schriftlichen Bekenntnis. Vielleicht lag es daran, dass ich ihm Einblick in etwas Persönliches gewährt hatte, jedenfalls war es ihm ein Bedürfnis, mir seinen richtigen Namen zu verraten.
Er heißt Winston. Was mich an die amerikanischen Zigaretten erinnert, die mein Tito Roño, der Schneider, immer geraucht hatte, als ich noch klein war.
Winston Lights.
Diese Winstons sollten die einzige Konstante im Leben meines Tito Roño sein. Ende der Achtziger geriet sein Laden in eine Flaute, als große Einkaufszentren die Familiengeschäfte in Cebu verdrängten und man statt der maßgeschneiderten Anzüge meines Onkels billige Polo-Klamotten kaufte, hergestellt in der Dritten Welt für die Dritte Welt. Überall in den Straßen sah man billige, nur teilweise oder gar nicht ausgefütterte Anzüge. Die Tage fliegender Asche und pastellfarbener Slips waren gezählt. Während die Akne auf meinem Vorpubertierenden-Gesicht im Laden meines Onkels unbemerkt blieb, ließ er sich Ohrlöcher stechen und rutschte in eine tiefe Midlife-Crisis. Er erinnerte allmählich an einen philippinischen George Michael, so etwa zur Zeit von »Don’t Let the Sun Go Down on Me«.
In diesen Jahren war es meine Tante Baby, die Tito Roño über Wasser hielt. Sie war Geldverleiherin und wurde eher gefürchtet als respektiert. Bei ihr gab es keine Bürokratie. Man brauchte keine Kreditwürdigkeit und auch keinen Beschäftigungsnachweis; das Wort ihrer Kunden genügte ihr. Und so funktionierte ihr System auch eine ganze Weile, ob es nun illegal war oder nicht. 28 Der stets drohende Finanzkollaps mochte für eine Straßenbank wie ihre zwar keine Gefahr darstellen, aber was ihrem Geschäft fehlte, war die Rückversicherung eines jeden Finanzinstituts der Dritten Welt: Männer mit Gewehren. Ende April 1990 wurde meine Tante auf dem Rückweg vom Casino Filipino, wo sie zweiunddreißig Stunden an den Mah-Jongg-Tischen verbracht hatte, zu ihrer Suite im Shangri-la verfolgt. Sie und mein Onkel hatten sich vor Kurzem getrennt, aber im Guten. Das Zimmermädchen fand meine Tante am Fußende des Bettes, erstickt unter einem schwarzen Müllsack, den ihr jemand über den Kopf gezogen hatte. Sie war hinübergegangen mit einem Tausend-Peso-Schein in der Hand (damals etwa zwanzig US-Dollar), den sie festhielt, als wäre er ihr liebes Leben.
Ich war dreizehn, als sie starb. Nie wieder würde ich den Sommer fern von meinen Eltern in Tito Roños Laden verbringen.
Die beiden Leben hatten einen tragischen Wendepunkt genommen – das eine war in gekränkter Betrübnis erstarrt, dem anderen ein brutales Ende gesetzt worden. Aber im Vergleich zu meinen langweiligen Eltern, den beiden Ärzten, hatten mein Onkel und meine Tante stets ein gewisses Risiko kultiviert. Sie hatten Geheimnisse und Affären, wohnten in Hotels, spielten und wurden um die Ecke gebracht. Augenzeugen zufolge könnten die letzten Stunden meiner Tante im Casino Filipino durchaus ihre schönsten gewesen sein. Sie wurde dabei gesehen, wie sie bis zu fünftausend Pesos setzte (ungefähr einhundert US-Dollar), einen Gin Tonic nach dem anderen trank und den Kellnern zehn Pesos Trinkgeld gab (ungefähr zwanzig US-Cents). So ungefähr wollte ich auch leben.
Mein Durst nach Neuem wurde nur noch brennender, als in jenem Herbst in Manila die Schule wieder begann. Wie aus dem Nichts tauchten plötzlich die Mädchen auf, weiter entwickelt und in einem neuen Licht. Ich hatte
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