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Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Gilvarry
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im Schilde, das ist mir heute klar. Bloß warich damals zu blind vor Gier oder schlichtweg zu dumm, ihn zu verdächtigen. Ich hätte wissen müssen, dass das Geld, das er durch mein Label schleuste, so dreckig war wie der Dünger nebenan, dass es andere Gründe für Ahmeds Großzügigkeit gab.
    War ich so weit von der Realität entfernt, dass ich tatsächlich dachte, ich hätte eine gute Fee?
    Vielleicht stimmt das, was Hicks in meinem Koran unterstrichen hat, und ich hatte verdient, was ich bekam.
    Wenn das unvermeidliche Ereignis eintrifft, dann wird es die einen erniedrigen, andere wird es erhöhen.

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    NIEMANDSLAND
    Ich kenne die Angst und die Schrecken der Einsamkeit.
    Yves Saint Laurent

...
    BOYET R. HERNANDEZ, KLÄGER
    ...
    Wie lange bin ich schon im Niemandsland? Soll ich die Tage zählen? Die Überwältigende Heimsuchung ist jetzt schon über fünf Monate her, diese Nacht-und-Nebel-Aktion, bei der ich hierher verschleppt wurde. Wieder ist ein drückend heißer New Yorker Sommer vorüber, und nun verdunkelt sich zu Hause in der Stadt der Herbst zum Winter. Schaut euch die Blätter in den Parks an – wie die Federn eines Truthahns! Schaut euch die tanzenden Regentropfen an den Seitenfenstern der Taxis an! All das kann ich mir nur vorstellen. Ich darf gar nicht daran denken, dass die Kollektion, die Gil Johannessen einen »Bildungsroman« nannte, für diese Saison designt war und ich nicht in New York bin, um sie an den Frauen zu sehen! Bildungsroman! Was für ein phallischer Ausdruck! Kaum zu glauben, aber ich habe schon wieder ganz vergessen, was er überhaupt bedeutet. So etwas stellen fünf Monate im Niemandsland mit einem an. Der Kopf füllt sich mit schmutzigen, blutigen Gedanken, bis man alles aus dem Blick verliert, was einem einmal wichtig war.
    Hier drinnen tun sie ihr Bestes, diese blutigen Gedanken in Schach zu halten, indem sie sich eine eigene Sprache basteln. Eine Lingua Franca des Niemandslands. Wusstet ihr, dass wir im Niemandsland hundert Wörter für Selbstmord haben? Wirklich. Selbstschädigendes Verhalten (SSV), pantomimisch dargestelltes Erhängen, asymmetrische Kriegsführung, Selbstverletzung (versuchter Selbstmord), herbeigeführtes Herzversagen, Abmeldungsbeschluss (Hungerstreik), Lebensvereitelung, Eigenextinktion, Rasierunfall (Schnittverletzungen), die Liste geht endlos so weiter. Aber das Wort Selbstmord hört man nie. Es ist absolut verboten! Und wir werden auch niemals Gefangene genannt. Wir sind Internierte. Da haben die sich wirklich etwas bei gedacht. Wenn sie uns nicht Gefangene nennen, müssen sie uns auch nicht anklagen.
    Ich habe Riad, meinen Duschpartner, schon lange nicht mehr gesehen. Cunningham sagte, er habe aufgehört zu essen. Als Protest, und zwar nicht mehr wegen der Wasserflaschen, sondern wegen der ganzen Sache: wegen des Niemandslands. Und plötzlich war Riad aus dem Block verschwunden. Er wurde auf die Krankenstation verlegt, wo er angeblich über einen Schlauch durch sein rechtes Nasenloch ernährt wird. »Da ist keiner mehr zu Hause«, hat Cunningham gesagt. »Nichts zu machen. Der ist hin. Scheiß drauf.«
    Heute Morgen habe ich einen Brief vom Präsidenten bekommen, mit dem Datum von heute, 3. November 2006. Ein Militärpolizist, den ich noch nie zuvor gesehen hatte, hat ihn mir direkt übergeben, ohne dass meine Wache Win ihn in die Hände bekam. Der Umschlag trug das Siegel vom Executive Office des Präsidenten der USA: Einen Weißkopfseeadler mit einem Schild vor der Brust, einem Olivenzweig und einem Bündel Pfeile in den Klauen. Auf dem Siegel stand tatsächlich SEAL OF THE PRESIDENT OF THE UNITED STATES. Ich hatte immer angenommen, es würde etwas anderes daraufstehen – »life, liberty, the pursuit of happiness« oder so was. Auf jeden Fall machte mein Herz einen Sprung, als ich das Siegel des Präsidenten sah. Es war die erste Post, die ich seit dem Brief meines Anwalts bekommen hatte. Eine Entschuldigung vom Präsidenten persönlich, dachte ich. Pustekuchen. Der Brief informierte mich über mein bevorstehendes Tribunal. Der Präsident der Vereinigten Staaten gegen Boyet R. Hernandez, Kläger. Weiter wurde erklärt, dass die Verhandlung meinen Status als feindlicher Kombattant oder »nicht mehr feindlicher Kombattant« 66 klären solle. Außerdem stand darin, wer bei dem Tribunal anwesend sein würde (ein Richter, ein Staatsanwalt und mein persönlicher Stellvertreter, keine Jury), und dass ich mich in Kürze mit meinem persönlichen

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