Bekenntnisse eines friedfertigen Terroristen (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Vertreter treffen werde. In Kürze! Die Verhandlung stand vor der Tür (zwei Wochen ab dem Datum des Briefs), und sie hatten mir immer noch nicht gesagt, wann ich dieses nebelhafte Phantom kennenlernen würde, das mein Leben verteidigen sollte! Und kein Wort davon, ob mein New Yorker Anwalt anwesend sein würde.
Der Absender lautete:
1600 Pennsylvania Avenue
Washington, D.C. 20 006
Mein Special Agent hat alles gelesen, was ich bisher geschrieben habe, in unserer letzten Sitzung direkt vor meinen Augen. Damit mir die Stunden, die er zum Lesen brauchte, nicht zu lang wurden, hatte er mir eine Rezension von Michelles Stück aus der Daily News mitgebracht (wieder Wochen alt und wieder mit zahlreichen zensierten Stellen). Außerdem gab er mir die Oktoberausgabe der Vogue und eine Schachtel Donuts. Als würde Spyro meine Bedürfnisse schon vor mir kennen. Er ist das Einzige, was meinem Leben hier im Niemandsland ein gewisses Maß an Beständigkeit gibt. Seine Bereitschaft, anderen eine Freude zu machen, erinnert mich an … naja, an mich. Früher wollte ich immer jeden glücklich machen, den ich sah, und lernte schnell, dass ich so immer bekam, was ich wollte. Aber verstehen Sie mich nicht falsch: Spyro erzählt mir nicht einfach nur, was ich hören will. Das habe ich auch nie getan. Nein, er erscheint mirin seiner Suche nach der Wahrheit vollkommen ehrlich. Und genau wegen dieser Ehrlichkeit ist mir so viel daran gelegen, ihm eine Freude zu machen. Ich will ihm klipp und klar die Fakten sagen und auch die Dinge nicht auslassen, die mir vielleicht unwichtig vorkommen, ihm aber nützen könnten.
»Sie sind auf dem Broadway gerade der große Star«, sagte er und gab mir den Artikel.
»Off-Broadway«, korrigierte ich ihn.
»Nehmen Sie’s doch nicht so genau. Kein Grund zur Aufregung«, erwiderte Spyro und gab mir die Rezension, die ich sofort las.
Stellen Sie sich vor, Ihr Leben wird zum Theaterstück verwurstet. Die Tatsachen werden so verdreht, wie es fürs Publikum am aufregendsten ist. Ich bin wohl nur als Fashion Terrorist spannend genug. Und Michelle erscheint dem Publikum als Opfer sympathischer. Die Motive sind viel besser zu verstehen, wenn sie extrem vereinfacht dargestellt werden. Das gehört zu den Grundlagen der Unterhaltungsindustrie. Man muss nun mal etwas dazudichten, wenn man den dritten Akt ordentlich zu Ende bringen will. So läuft das am Theater. Klar, jeder weiß, dass ein Theaterstück Fiktion ist. Aber das Publikum versucht hartnäckig, aus dieser Fiktion die ein, zwei Körnchen Wahrheit herauszupicken. Welche es wohl sind? Vielleicht dieses, vielleicht jenes, das reine Ratespiel. Denn wer weiß es schon wirklich? Im Endeffekt kauft selbst ein einigermaßen intelligentes Publikum den Schauspielern ihre Lügen ab. Denn nichts anderes ist Fiktion: Eine Ansammlung von Lügen. Gerade Spyro sollte das wissen, schließlich waren es die Griechen, die einst die Geschichtenerzähler wegen ihrer Geistesvergiftung verbannten. 67 Als er meine Aufzeichnungen las, fragte er sich vielleicht auch: Was kann ich glauben? Ist dieses wahre Bekenntnis eine lupenreine Darstellung der Fakten? Man muss dabei die extremen Bedingungen bedenken, unter denen ich schrieb. Ich bin allein in meiner Zelle. Umgeben von einem Haufen garstiger Terroristen. Ich stehe vierundzwanzig Stunden am Tag unter Überwachung. Während mein Stift über den Block kratzt, spüre ich praktisch die Pistole an der Schläfe. (Im übertragenen Sinne. Spyro würde so etwas nie tun. Win und Cunningham auch nicht. Sie tragen auch alle keine Waffen.) Ich habe keine Zeit für Fehler. Im Niemandsland gibt es keine Proben. Hier bricht es einem das Genick, wenn man es nicht auf Anhieb schafft … und zwar ganz ohne dichterische Freiheiten.
Was ich in der Rezension von Im Bett mit dem Feind las, widerte mich dermaßen an, dass ich mehrmals Pausen einlegen und einen Donut essen musste. Lou Diamond Philips’ Leistung als Fashion Terrorist Guy wurde »vor dem Hintergrund einer derart düsteren Tragödie geradezu heldenhaft« genannt. Und Chloë, die in der Rolle der Freedom »alles zeigt«, wie es heißt, legte ein »erstklassiges Debüt« auf die Bühne. Und dann muss man sich mal vorstellen, dass ich und meine derzeitige Situation in der Rezension mit keinem Wort erwähnt werden. Als wäre ich schon völlig vergessen. Im Stück geht es um einen Modedesigner, der mir vage nachempfunden ist, aber über mich kein Wort. »Vor dem Hintergrund einer derart
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