Bell ist der Nächste
Zwielicht war inzwischen der Dunkelheit gewichen.
»Was machst du?«
»Polizeiarbeit«, sagte Elizabeth.
Sarah pflückte wahllos einen Brief vom Couchtisch.
»Wenn ich das jetzt lese, bin ich dann für mein Leben gezeichnet?«
»Ich glaube nicht.«
Früher hatte Elizabeth versucht, ihr Privatleben streng von ihrem Berufsleben zu trennen. Sie war damit ziemlich gut zurechtgekommen, bis Sarah ins Teenageralter kam und eine große Neugierde dafür entwickelte, was ihre Mutter beruflich machte. Schließlich hatte Elizabeth es aufgegeben, das Mädchen völlig außen vor zu halten. Aber sie versuchte immer noch, gewisse Grenzen zu wahren. »Fürs Leben gezeichnet« war eine davon: Alles, was Sarah traumatisieren konnte, war strikt tabu, und dazu gehörten etwa Autopsieberichte oder Tatortfotos. Soweit Elizabeth Einblick genommen hatte, schienen die Briefe aus Callie Spencers Ordner ziemlich harmlos zu sein.
Sarah blickte von dem Brief auf, den sie sich ausgesucht hatte, und sagte: »Der hier handelt von Carolinatauben.«
Elizabeth schob eine weitschweifige Notiz, die jemand auf einer aus einem Telefonbuch herausgerissenen Seite niedergeschrieben hatte, beiseite.
»Was ist mit ihnen?«, fragte sie.
»Dieser Typ will, dass Callie dafür sorgt, dass das Jagdverbot für sie aufgehoben wird.«
»Das ist unsinnig, aber nicht verrückt. Vielleicht ist der Brief falsch abgelegt worden.«
»Er will sie abschießen können, weil er denkt, dass sie Abkömmlinge aus einer anderen Dimension sind«, sagte Sarah. »Er kriegt ihr Gurren einfach nicht aus seinem Kopf. Er glaubt, dass sie versuchen, seine Gedanken zu kontrollieren.«
»Interessant. Aber wenn sie seine Gedanken kontrollieren können, hätten sie dann zugelassen, dass er diesen Brief schreibt?«
»Na ja, einstweilen versuchen sie es nur. Es ist ihnen noch nicht gelungen.«
Elizabeth griff nach ihrem Weinglas. »Benutzt er Adverbien?«
»Ich sehe keine«, sagte Sarah. »Nein, warte. Hier ist eins: Die Tauben quälen ihn gnadenlos . Dann ist das nicht unser Mann.«
Er ist nicht dabei, dachte Elizabeth. Der Mann im karierten Hemd war offenbar als normal durchgegangen. Wenn er irgendwo in Callie Spencers Akten war, dann bei den »normalen« Bürgern, die sich um »normale« Dinge sorgten: Arbeitslosigkeit und Steuern, grüne Technologie und bessere Schulen. Oder Callie hatte Elizabeth den Zugang dazu verwehrt.
Elizabeth trank einen Schluck Wein und stellte das Glas wieder auf dem Tisch ab. Sarah las laut aus einem Brief vor, der vom Parlament Gelder für die Erforschung von Levitation und Telekinese forderte. In einem weiteren wurde die Befestigung der südlichen Grenze Michigans gegen die Invasion aus Ohio gefordert.
»Der enthält auch Zeichnungen«, sagte Sarah. »Skizzen von Grenzbefestigungen. Ein Grabensystem.« Sie war aufgestanden und ging durchs Zimmer, während sie die Seiten durchblätterte. »Den will ich David zeigen. Weißt du, wann er nach Hause kommt?«
»Er hat nichts gesagt.«
»Ich glaube, das könnte ihm gefallen. Du weißt ja, wie er ist. Immer kontrolliert er die Schlösser an Türen und Fenstern.« Sarah blieb am Fenster stehen, sah durch die weißen Lamellen der Jalousie hindurch auf die Veranda und die Straße hinaus.
Elizabeth hörte, während sie sich weiter den Briefen widmete, das leise Geräusch, mit dem sich die Jalousie schloss. Einen Augenblick später hörte sie, wie sich die Haustür öffnete und wieder geschlossen wurde.
Ein oder zwei Minuten später ging die Tür erneut. Sarah kam zurück ins Wohnzimmer und drückte auf einen Knopf der Hi-Fi-Anlage. Die Symphonie brach abrupt ab. Sie knipste den Schalter an der Stehlampe aus, und das Zimmer fiel in ein graues Dunkel.
»Hey, was machst du?«, sagte Elizabeth.
Sarah kniete sich neben sie. »Da draußen steht ein Wagen am Straßenrand mit laufendem Motor. Drin sitzen zwei Leute – ein Mann und eine Frau. Irgendetwas ist komisch. Der Mann hat sich in seinen Sitz geduckt, als ich vorbeiging, so als wollte er nicht erkannt werden.«
Elizabeth runzelte die Stirn. »Du hättest mir Bescheid geben sollen, bevor du da rausgehst.«
»Ich war neugierig.«
»Du hast kein Kennzeichen, oder?«
»Versuche nicht, mich zu beleidigen«, sagte Sarah fast gekränkt.
»Dann schieß los.«
Sarah sagte die Nummer auf. »Es ist ein Audi, ziemlich neu.«
Elizabeth stand auf, fischte ihr Handy aus der Handtasche. Wählte auf dem Weg zum Fenster die Nummer der
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