Benedict-Clan "Der Mitternachtsmann"
jetzt? Dachte er sich eine List aus, um sie aus ihrer Deckung hervorzulocken und dann noch einmal zu schießen? Oder hatte er jemand vorgeschickt, der sie holen sollte wie ein Jagdhund eine untergegangene Ente?
„Und du willst hier bleiben“, flüsterte sie. „Allein.“
„Aber nicht wehrlos. Jetzt mach schon, dass du in das verdammte Boot kommst, bevor wir noch beide ins Gras beißen.“
Er legte ihr einen Arm um die Taille und machte sich bereit, sie über das Dollbord zu hieven. Sie könnte natürlich versuchen, sich zu wehren, aber sie war sich keineswegs sicher, ob es zu etwas führen würde, und er konnte es sich nicht leisten, noch mehr von seiner kostbaren Kraft zu verlieren, die er dringend für andere Zwecke benötigte. Noch entscheidender aber war, dass Luke nur ihretwegen in Gefahr war. Wenn sie mit dem Dinghi wegfuhr, konnte sie den Schützen da draußen vielleicht ablenken, so dass Luke an den Erste-Hilfe-Kasten kam, der an Bord des Pontonboots war. Und vielleicht auch an eine Waffe. Zumindest hätte er so eine Chance.
„Also gut“, stimmte sie schließlich zu. „Ich gehe. Aber was ist, wenn ich nicht mehr zurückfinde?“
„Du darfst nicht zurückkommen. Sieh zu, dass du nach Turn-Coupe kommst und sag Roan Bescheid.“
„Und wenn ich mich verirre?“
„Ich werde dich finden. Ich kenne mich hier in den Sümpfen aus wie in meiner Hosentasche. Ich werde dich finden, wo du auch bist.“
Sie glaubte ihm, sie sah die Entschlossenheit in seinen Augen, als er sie jetzt im schwindenden purpurgrauen Licht der untergehenden Sonne anschaute. Der Moment zog sich in die Länge, während sie Wasser traten und sich tief in die Augen schauten. Das Wasser schwappte ihnen übers Kinn und trieb sie immer wieder zueinander. Die leisen klatschenden Geräusche vermischten sich mit dem Geräusch ihrer Atemzüge.
Dann wurde nicht weit entfernt ein Bootsmotor angelassen. Lukes Lippen wurden schmal, als er den Kopf wandte, um zu lauschen. „Sie kommen. Du musst weg. Schnell.“
„Ja“, flüsterte sie.
Trotzdem ließ sein Blick sie nicht los, als wollte er sich ihre Züge ein für alle Mal ganz genau einprägen. Dann verzog er gepeinigt das Gesicht. Abrupt streckte er die Hand aus, legte sie an ihren Hinterkopf und zog sie zu sich heran, um sie kurz und hart zu küssen.
April erwiderte den Kuss, sie legte ihre ganze Angst und Hoffnung hinein, und ihre Liebe. Dann ließ er sie los und stemmte sie hoch. Sie bekam das kühle Aluminium über sich zu fassen und zog sich aus eigener Kraft hoch. Luke half von unten nach. Als sie kopfüber ins Boot rutschte, strich er mit der Hand über ihr Bein und ihre Kniekehle. Es war eine letzte Liebkosung.
„Der Motor müsste eigentlich beim ersten Versuch anspringen“, rief er zu. „Zieh fest und gib dann sofort kräftig Gas. Von hier aus fährst du geradeaus bis zum Kanal, dann biegst du nach Westen ab. Und dreh dich nicht um.“
Seine letzten Worte gingen fast in dem Lärm unter, den der Motor beim Anspringen machte. Und doch wiederholten sie sich in ihrem Kopf wie eine Litanei.
Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um. Dreh dich nicht um, um zu sehen, ob ich mich über Wasser halten kann. Vergewissere dich nicht, ob ich das Pontonboot auch erreiche. Dreh dich nicht um, damit du nicht siehst, ob jemand hinter mir ist. Versuch nicht, einen letzten Blick auf mich zu erhaschen, für den Fall, dass du mich nie wiedersiehst
.
Diesem Befehl zu folgen war unmöglich. Sie musste sich einfach umdrehen, während sie Gas gab und das Steuer des Dinghis herumriss, so dass das Wasser in hohem Bogen aufspritzte. Sie suchte mit brennenden Augen die tanzenden Wellen ab, um einen letzten Blick auf den Mann zu erhaschen, dem sie so viel verdankte, den Mann, der sie gelehrt hatte zu lieben. Den Mann, den sie schon geliebt hatte, als sie noch ein junges Mädchen gewesen war, und den sie in all den Jahren törichterweise nie aufgehört hatte zu lieben.
Er war nicht mehr dort, wo sie ihn verlassen hatte. Er war in den Sümpfen verschwunden, die sein Zuhause waren und ihn verbargen und vielleicht verschluckten.
Eine Sekunde später fuhr sie um die kleine Biegung, die der Kanal machte, dann waren das Pontonboot und die von ihrem Kielwasser gekräuselte Wasseroberfläche des kleinen Wasserarms ihrem Blick entzogen. April stiegen die Tränen in die Augen. Sie quollen heraus und liefen ihr über die Wangen. Sie ließ ihnen freien Lauf, während sie das Dinghi zu Höchstleistungen anspornte
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