Benedict-Clan "Der Mitternachtsmann"
emotional wäre, um das Schlimmste im Voraus zu wissen. „Wenn das ein Spaß sein soll, dann finde ich es gar nicht lustig. Fahr zurück. Auf der Stelle.“
Er gab keine Antwort. Als er das Steuer herumriss, um einem treibenden Baumstamm oder einem Alligator auszuweichen, neigte sich das Boot zur Seite, und sie wurde gegen ihn geschleudert.
„Warum machst du das?“ fragte sie, während sie sich von ihm abstieß und wieder aufrichtete. „Was ist los mit dir? Spinnst du?“
„Ich sorge nur dafür, dass du sicher bist. Wenn du schon nicht selbst auf dich aufpasst, muss ich es eben tun.“ Er sah sie herausfordernd an.
„Ich brauche niemand, der auf mich aufpasst“, erklärte sie wütend.
„Ja, das hat man heute Morgen ja gesehen“, gab er höhnisch zurück.
„Mir ist nichts passiert.“
„Das hast du nur der Güte Gottes und deinem Glücksstern zu verdanken.“
„Dafür wirst du uns noch beide umbringen, wenn du weiter so rast!“
Er warf ihr einen Blick zu, dann ging er ein bisschen vom Gas. Aber nur ein bisschen.
„Bring mich nach Hause, Luke“, verlangte sie. „Du bringst mich jetzt sofort nach Hause.“
Keine Antwort.
„Ich meine es ernst. Entweder bringst du mich auf der Stelle nach Hause oder …“
„Oder was?“ unterbrach er sie schneidend. „Oder ich werde es bereuen? Das tue ich bereits, aber das ändert auch nichts. Wir fahren nicht nach Hause; du kannst dich also getrost wieder hinsetzen und die Fahrt genießen.“
Er entführte sie, er entführte sie wirklich. Es war kein Spiel, es hatte nichts mit dem Festival zu tun. Sie fuhren immer tiefer in die Sümpfe hinein. Irgendwann würde er anhalten. Und was dann?
Sie konnte, sie wollte es sich nicht ausmalen. Sie kehrte auf ihren Platz zurück. Aber sie schaffte es immer noch nicht, ihren Blick von ihm loszureißen, sie konnte nicht aufhören, seine hoch gewachsene Gestalt anzuschauen, seine angespannten Gesichtszüge und seine sehnigen, erfahrenen Hände am Steuer. Unwillkürlich verglich sie ihre physische Kraft mit seiner und fragte sich, was es wohl brauchte, um ihn aufzuhalten.
Sie war sich nicht sicher, ob es überhaupt irgendetwas gab, wodurch er sich aufhalten ließe.
Das war kein angenehmer Gedanke. Sie schlang sich die Arme um die Taille und hielt ihr Gesicht in den warmen Abendwind. Luke schaute sie nicht wieder an.
Über dem Wasser waberte graues Zwielicht, als sie endlich in einen schmalen Kanal fuhren, der von Zypressenstämmen und schwankenden Stängeln lavendelblauer Wasserhyazinthen fast erstickt wurde. An seinem Ende bogen sie wieder ab und gelangten in einen ruhigen, von moosbewachsenen Zypressen umstandenen Teich mit noch mehr Wasserhyazinthen und Kissen aus gelben Wasserlilien, die die Wasseroberfläche nahezu bedeckten. Luke machte den Motor aus, dann glitten sie zwischen die wuchernden Wasserpflanzen, die von den Aluminiumpontons des Bootes rigoros beiseite geschoben wurden. Irgendwann ging es nicht mehr weiter, und das üppige Grün schloss sie ein.
Luke machte das Radio aus, vielleicht, um Batterien zu sparen. Dann zog er den Zündschlüssel heraus und steckte ihn ein. Er setzte den vorderen Anker und ging anschließend ans Heck, um auch den hinteren zu setzen. Als er an ihr vorbeikam, zog sie die Füße auf die Bank und schlang sich die Arme um die Knie. Er warf ihr aus verengten Augen einen Blick zu, sagte jedoch nichts.
April schaute sich in ihrem Versteck um. Es hatte ungefähr einen Durchmesser von fünfzig Fuß und war noch zugewucherter als die erste Stelle, an der sie angehalten hatten. Ganz in der Nähe hockte ein Silberreiherpärchen auf einem Baumstumpf, ihr Gefieder glänzte weiß im schwindenden Licht. Hellorange Fliegen umschwärmten einen Abschnitt mit Wasserlilien, und ein langer, schlammbrauner Gegenstand weiter weg in der Nähe des Ufers war entweder ein verrotteter Baumstamm oder ein Alligator, der geduldig auf eine Mahlzeit wartete. Die Stelle war dumpfig feucht und wenig einladend. Und weit und breit war bis auf sie beide keine Menschenseele.
Luke kam wieder nach vorn und holte einen mit Propangas betriebenen Kocher mit zwei Flammen und eine altmodische Pfanne heraus. Dann schälte und schnitt er kleine Zwiebeln, schlug mehrere Eier in eine Schüssel und verrührte sie mit Milch und Gewürzen. Dabei warf er ihr ab und zu einen Blick zu, aber sie weigerte sich, ihn zu erwidern.
Das schien ihn zu ärgern. Mit einem leisen Knall stellte er die Pfanne auf die Gasflamme und gab
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