Benedikt XVI
innere
Problematik. Denn inwieweit gehören die Menschen der Kirche überhaupt noch zu?
Sie wollen ihr einerseits zugehören, wollen dieses Fundament nicht verlieren.
Andererseits sind sie natürlich doch auch inwendig geformt und gestaltet von
der modernen Denkart. Es ist das unvergorene Mit- und Nebeneinander von
christlichem Grundwillen und einer neuen Weltanschauung, die das ganze Leben
prägt. Insofern verbleibt eine Art von Schizophrenie, eine geteilte Existenz.
Wir müssen
danach trachten, dass beides, soweit es sich vereinbaren lässt, sich ineinander
fügt. Das Christsein darf nicht zu einer Art archaischer Schicht werden, die
ich irgendwie festhalte und gewissermaßen neben der
Modernität lebe. Es ist selbst etwas Lebendiges, etwas Modernes, das meine
gesamte Modernität durchformt und gestaltet - und sie insofern regelrecht
umarmt.
Dass hier
ein großes geistiges Ringen erforderlich ist, habe ich nicht zuletzt jüngst
durch die Gründung eines "Päpstlichen Rates für die Neuevangelisierung"
zum Ausdruck gebracht. Wichtig ist, dass wir versuchen, das Christentum so zu
leben und zu denken, dass es die gute, die rechte Moderne in sich aufnimmt -
und zugleich sich dann von dem scheidet und unterscheidet, was eine
Gegenreligion wird.
Nüchtern betrachtet ist die
katholische Kirche die größte Organisation der Welt, mit einem gut
funktionierenden, zentral organisierten Netz über den ganzen Globus. Sie hat
1,2 Milliarden Mitglieder, sie hat über 4000 Bischöfe, 400.000 Priester,
Millionen Ordensleute. Sie hat tausende von Universitäten, Klöstern, Schulen,
Sozialeinrichtungen. Sie ist in Ländern wie Deutschland nach dem Staat der
größte Arbeitgeber. Sie ist nicht nur eine Premium-Marke mit unverbrüchlichen
Richtlinien, sondern hat eine eigene Identität - mit eigenem Kult, mit eigener
Ethik, mit dem Heiligsten vom Heiligen, der Eucharistie. Und überhaupt: Sie
ist von "ganz oben" legitimiert und kann von sich behaupten: Wir
sind das Original; und wir sind die Hüter des Schatzes. Mehr geht eigentlich
nicht. Ist es nicht seltsam, oder nicht auch ein Skandal, dass diese Kirche
nicht weit mehr aus diesem unvergleichlichen Potential macht?
Das müssen wir uns natürlich
fragen. Es ist das Aufeinanderstoßen zweier geistiger Welten, der Welt des
Glaubens und der Welt des Säkularismus. Die Frage ist: Wo hat der Säkularismus
recht? Wo also kann und muss sich der Glaube die Formen und Gestalten der
Moderne aneignen - und wo muss er Widerstand leisten? Dieses große Ringen
durchdringt heute die ganze Welt. Die Bischöfe in den Dritte-Welt-Ländern
sagen mir: Auch bei uns ist der Säkularismus da; er fällt hier mit noch ganz
archaischen Lebensformen zusammen.
Oft fragt
man sich wirklich, wie es kommt, dass Christen, die persönlich gläubige
Menschen sind, nicht die Kraft haben, ihren Glauben politisch stärker zur
Wirkung zu bringen. Wir müssen vor allen Dingen versuchen, dass die Menschen
Gott nicht aus den Augen verlieren. Dass sie den Schatz erkennen, den sie
haben. Und dass sie dann selber, aus der Kraft des eigenen Glaubens heraus, in
die Auseinandersetzung mit dem Säkularismus treten und die Scheidung der
Geister zu vollziehen vermögen. Dieser gewaltige Prozess ist der eigentliche,
große Auftrag dieser Stunde. Wir können nur hoffen, dass die innere Kraft des
Glaubens, die in den Menschen da ist, dann auch öffentlich mächtig wird, indem
sie auch öffentlich das Denken prägt, und die Gesellschaft nicht einfach ins
Bodenlose fällt.
Könnte man nicht auch davon
ausgehen, dass sich nach 2000 Jahren das Christentum einfach erschöpft hat, so
wie sich in der Geschichte der Zivilisation auch andere Großkulturen erschöpft
haben?
Wenn man es oberflächlich
betrachtet und nur die westliche Welt im Blickfeld hat, könnte man das denken.
Aber wenn man genauer hinschaut, wie es mir gerade durch die Besuche der
Bischöfe aus aller Welt und durch viele andere Begegnungen möglich ist, sieht
man, dass das Christentum in dieser Stunde zugleich eine ganz neue Kreativität
entfaltet.
In
Brasilien zum Beispiel gibt es einerseits ein starkes Anwachsen der Sekten, die
oft sehr fragwürdig sind, weil sie zumeist nur Prosperität verheißen, äußeren
Erfolg. Es gibt aber auch neue katholische Aufbrüche, eine Dynamik neuer
Bewegungen, etwa die "Herolde des Evangeliums", junge Menschen, die
von der Begeisterung erfasst sind, Christus als den Sohn Gottes erkannt zu
haben und ihn in die Welt zu
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