Benny und Omar
wütend gesehen zu haben. Er fragte sich, wie schwer Georgie sich wohl verletzt hatte.
»Nur Lügen. Die ganze Geschichte. Lügen. Dieser Omar ist gar nicht der Sohn eines Wachmanns.«
»Ja, aber –«
»Ach, komm mir nicht mit deinen Geschichten. Ich weiß Bescheid. Ich habe Mister Khayssi angerufen. Sie hatten schon öfter Schwierigkeiten mit diesem Rowdy. Er ist ein kleiner Dieb! Und ein Vandale!«
Benny fing an zu weinen.
»Ach ja. Auf die Tränendrüse drücken. Bemüh dich nicht, mein Junge. Diesmal hast du die Brücken hinter dir abgebrochen.«
Benny wusste nicht, was er tun sollte. Welche Worte waren die richtigen? »Dad, es tut mir Leid.«
Pat Shaw lachte. Ein freudloses, gequältes Schnauben. »Leid! Leid! Das Einzige, was dir Leid tut, ist, erwischt worden zu sein!«
»Nein, wirklich.«
»Sei still Benny. Ich bin zu zornig, um mit dir zu reden.«
Im Badezimmer heulte Georgie immer noch. Benny wünschte sich, unsichtbar zu sein. Eine Minute lang funktionierte es. Dad stand neben ihm und atmete heftig, als hätte er gerade ein paar Runden gedreht.
An der Vordertür klopfte es.
»Das werden sie sein«, murmelte Pat Shaw. Er stürmte los und zog seinen heulenden Sohn mit sich. »Du setzt dich hier hin« sagte er und drehte Benny zu einem Sessel. »Halt den Mund und rühr dich nicht von der Stelle.« Er machte einen Schritt in Richtung Tür, wandte sich dann aber noch einmal um: »Glaub bloß nicht, dass ich das vergesse«, flüsterte er. Dieser neue Tonfall war viel unheimlicher als das Gebrüll. »Ich werde mich nicht beruhigen. Ich werde dafür sorgen, dass ich zornig bleibe. Du wirst diesen Abend noch lange bereuen.«
Benny zitterte. Alles war Georges Schuld, wie immer. Dieser Kerl konnte nicht einmal normal auf einer Couch sitzen. Er musste aufstehen und aus einem Fenster fallen. Typisch.
Talal Khayssi, der Verwalter des Dorfes, stand an der Tür. »Asslama« , sagte er. »Ich bringe den Arzt mit.«
Arzt! Was hatte sich der Schleimer bloß angetan?
»Bitte, kommen Sie herein. Kommen Sie herein«, sagte Pat Shaw. »Vielen Dank, dass sie so rasch gekommen sind.«
» Mafi mushkela. Kein Problem, Mister Shaw.«
Sie traten ein und auch ein paar Moskitos witschten herein. Der Doktor sah übertrieben diensteifrig aus: dreiteilige Nadelstreifen, dicke Brille, die ganze Ausrüstung.
»Bonsoir« , sagte er und streckte die Hand aus.
Pat Shaw nahm die Hand. »Hier entlang. Ich glaube, er braucht ein paar Stiche.«
Stiche! Benny wurde übel.
Sie verschwanden im Bad. Einen Augenblick lang drang die wahre Lautstärke von Georgies Gebrüll durch die Tür. Der kleine Kerl hörte sich an, als hätte er wirklich Schmerzen. Zum ersten Mal in seinem Leben hoffte Benny, dass sein Bruder schauspielerte.
Benny beschloss, es mit einem Gebet zu versuchen. Lieber Gott, begann er. Aber, lieber Gott – was? Jeder wusste, dass Gebete nichts halfen, wenn man sie nur im Notfall sprach. Es machte keinen Sinn, jahrelang bei der Hälfte des Rosenkranzes einzuschlafen und dann, wenn man in Schwierigkeiten steckte, fromm zu werden. Vielleicht war es in Ordnung, wenn er für jemand anderen betete. Lieber Gott, fuhr er fort, bitte mach, dass Georgie beim Nähen still sitzt, sonst bekommt er eine Narbe, die gezackt ist wie das Blatt einer Säge.
Talal Khayssi starrte Benny anklagend an. »Du hast deinen Bruder allein gelassen?«
Kein Kommentar.
»Dieser Omar? Er steckt in Schwierigkeiten. Nicht gut.«
Benny presste die Lippen aufeinander. Wenn er sie mit einem Reißverschluss verschließen könnte, würde er es tun.
Khayssi strich sein pomadiges Haar zurück. »Master Shaw, wenn er weiterhin herüberkommt, wird Mohamed Gama seiner Hütte einen Besuch abstatten. Und Gama ist nicht so diplomatisch wie ich.« Khayssis Mundwinkel zuckte kurz. Tunesische Männer waren nicht daran gewöhnt, dass anmaßende Buben ihnen die Stirn boten.
Das Verhör wurde durch einen schrillen Schrei aus dem Bad unterbrochen. Benny zuckte zusammen: Die Nadel drang ein. Er wusste alles über das Genähtwerden. Das lag am Hurling. Zuerst der Stich für die Betäubung und dann die Nadel, die wie ein Angelhaken geformt war. Noch ein Aufjaulen. Das war der erste Stich. Benny stellte sich vor, wie der Faden hinter der Nadel durch das Fleisch glitt. Kein Narkosemittel konnte dieses Gefühl beseitigen. Benny zählte die Schreie. Sieben. Das hieß eine Spritze und sechs Stiche. Da musste ganz schön viel Blut geflossen sein. Warum war George nicht
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